Anhaltende Proteste in Israel: Aus Feinden werden Gefährten
Hunderttausende demonstrieren in Israel weiter gegen die geplante Justizreform. Die Sorge wiegt mehr als die Uneinigkeit der Protestierenden.
![Demonstranten mit einem Banner mit der Aufschrift "They shall not pass" - si kommen nicht durch Demonstranten mit einem Banner mit der Aufschrift "They shall not pass" - si kommen nicht durch](https://taz.de/picture/6119773/14/Israel-1.jpeg)
Da ist zum Beispiel die trans Frau Nina Halevy vom Gila Project for Trans Empowerment. Sie war bisher bei jedem Protest dabei, weil sie sich um die Zukunft ihres Landes sorgt, das zunehmend in Nationalismus und Ultraorthodoxie abdriftet. Als trans Aktivistin sieht sie es als ihre Pflicht für die Demokratie einzustehen, denn die LGBT-Community sei ihrer Meinung nach die erste, die unter die Räder der Rechten geraten könnte. In diesen Zeiten müssten sich alle politischen Gegner der Regierung vereinen, um die Demokratie zu retten, sagt sie. Auch wenn es zahlreiche Blöcke auf der Demo gibt, die in vielem nicht mit Halevys Ansichten übereinstimmen, wird der Feind ihres Feindes heute zu ihrem Freund.
Demokratie könne nicht zeitgleich mit der Besatzung der palästinensischen Gebiete existieren, sagt Halevy, weshalb sie sich dem Antiokkupationsblock anschließt, um gegen jegliche Form der Diskriminierung einzutreten. Dort wehen palästinensische neben israelischen Fahnen, Menschen halten Schilder auf Hebräisch und Arabisch hoch: „Palestinian lives matter“ oder „Menschenrechte für alle“.
Neben Halevy befindet sich der sozialistische Block. Zu ihm gehört auch Roberto, der nur seinen Vornamen nennt. Zionismus, findet er, sei 1948 notwendig für den Schutz von Juden und die Errichtung des Staats gewesen, jetzt müsse man gegen den Rassismus und die Degradierung von Palästinensern zu Bürgern zweiter Klasse im Land vorgehen.
Furcht um den Hightech-Standort Israel
Korrupte Politiker:innen würden die Menschen gegeneinander ausspielen, Angst verbreiten und somit Frieden unmöglich machen, findet Halevy. Dass die Proteste die antidemokratische Entwicklung ihrer Heimat rückgängig machen könnten, glaubt sie nicht. Aber tatenlos zuschauen will sie dabei auch nicht. Sie prognostiziert bürgerkriegsähnliche Zustände, immer mehr Menschen würden dann ins Exil gehen, nicht mehr in der Armee dienen, internationale Investoren und Firmen sich aus Israel zurückziehen.
Dass Israel als Geschäftsstandort leiden könnte, fürchtet auch Yossi, der seinen echten Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, und der ein Schild mit der Botschaft „Rettet unsere Start-up-Nation“ vor sich her trägt. Er arbeitet in der Hightech-Branche und kommt jede Woche aus Südisrael nach Tel Aviv, um gegen die Rückwärtsgewandtheit der Regierung zu protestieren.
Einen Einbruch der Lebensqualität in Israel befürchten auch die beiden Künstler:innen Danit und Erez. Sie weisen zwar auf den ansteigenden Antisemitismus und Gewaltbereitschaft auf arabischer Seite hin und betonen, die Sicherheit von Juden müsse gewährleistet werden, weil es damals wie heute Akteure gebe, die das jüdische Volk vernichten wollten. Gleichzeitig stehen sie gegen die schwierigen Lebensbedingungen von Palästinenser:innen ein, gegen die Beschneidung der Rechte von Frauen und Minderheiten. Sie versuchen, hinter all der Gewalt auf beiden Seiten Menschen zu sehen, die valide Punkte haben. Früher oder später müsse die Regierung ihre Forderungen anhören und Kompromisse eingehen, sagen sie.
Einige Meter von Yossi entfernt steht Michail, der nur seinen Vornamen nennt, und den die heutige Situation in Israel an seine alte Heimat Russland vor 20 Jahren erinnert. Diese verließ er vor elf Monaten und emigrierte nach Israel, weil das Protestieren in Russland zu gefährlich wurde. Die aktuellen Demonstrationen nennt er „Regenschirmproteste“: Gerade Gruppen, die sich sonst nie an einen Tisch setzen würden, liefen hier für eine gemeinsame Sache.
Wie wird Israel nach den Reformen aussehen?
Yael, die für die israelischen Sicherheitsbehörden arbeitet, und ihr Mann Nadav, die ebenfalls anonym bleiben möchten, erinnern an ihre Großeltern, die für die Unabhängigkeit Israels kämpften. Sie seien froh, sagen sie, dass diese nicht mehr mitansehen müssten, in welche Richtung Israel nun abdrifte. Juden, die über Jahrzehnte so viel gelitten haben, müssten doch wissen, was eine rechtsextreme Regierung bedeute, sagt Nadav. Sie hoffen, dass demokratisch gesinnte Menschen weltweit ihren Protest sehen und Druck auf Israels Regierung ausüben.
Sie alle treibt die Angst um, dass das Land, in dem sie leben, bald nicht mehr wiederzuerkennen sein wird.
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