Neue Gewalt im Westjordanland: Huwara im Visier

Sied­le­r*in­nen gehen gezielt gegen ein Dorf im Westjordanland vor. Zuvor hatte ein Palästinenser zwei Israelis getötet. Der Siedlungsbau? Geht indes weiter.

Menschen zwischen ausgebranten Autos

Ausmaß der Gewalt: Männer begutachten am Sonntag verbrannte Autos im palästinensischen Dorf Huwara Foto: Ilia Yefimovich/dpa

TEL AVIV taz | In Nahost folgt Gewalt auf Gewalt: Nach einem tödlichen Anschlag auf zwei israelische Siedler im Westjordanland ist es in dem arabischen Dorf Huwara zu einer Enthemmung von Gewalt gegen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen gekommen. „Sie brennen ganze Häuser ab“, berichtete eine Bewohnerin des Dorfes südlich der Stadt Nablus der taz am Sonntagabend. „Alle haben furchtbare Angst.“

Die Studentin, die ihren Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, lebt in Huwara und studiert in Nablus. Als sie ihre Seminare am Sonntag beendet hatte, konnte sie nicht mehr zu ihrer Familie zurückfahren, deren Haus auch angegriffen worden war. Nablus, eine der größten Städte im Westjordanland, war zu dieser Zeit bereits vom israelischen Militär abgeriegelt, nachdem rund 400 Siedler in das Dorf Huwara vorgedrungen waren.

Videos der gezielten Angriffe zeigen Rauchwolken über dem Dorf. Bis zu 100 Autos sollen in Brand gesetzt worden sein, etliche Häuser brannten komplett ab, andere teilweise. Hunderte Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen wurden palästinensischen Angaben zufolge verletzt, ein 37-Jähriger bei einem weiteren Siedlerangriff in der Nähe von Huwara erschossen.

Nur wenige Stunden zuvor hatte ein Palästinenser in Huwara zwei Israelis aus einer nahegelegenen Siedlung erschossen. Die Opfer, zwei Brüder im Alter von 19 und 21 Jahren, waren im Auto auf einer Straße unterwegs, die durch Huwara führt. Der Attentäter soll ein T-Shirt mit den Insignien der „Höhle der Löwen“ getragen haben, einer Gruppe militanter Palästinenser vor allem aus Nablus, die Anschläge gegen Israelis verübt und damit unter vielen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen große Beliebtheit gewonnen hat.

Karte vom Westjordanland mit dem Dorf Huwara

„Die palästinensische Wahrnehmung der militanten Gruppe ‚Höhle der Löwen‘ ist, dass sie das von ihnen wahrgenommene Kernproblem adressiert, das viele als israelischen ‚Siedlerkolonialismus‘ benennen“, heißt es in einer Analyse der Hilfsorganisation Medico International. „Anders als etablierte Kräfte wie Hamas oder Fatah zwingt die ‚Höhle der Löwen‘ die Menschen dabei aber nicht in einen religiösen oder politischen Rahmen.“

Der Gewalt von Sonntag können weitere Ausschreitungen folgen. Auf palästinensischer Seite gewinnen militante Kräfte offenbar immer mehr Einfluss. Auf der anderen Seite entsandte am Montag Israel zusätzliche Truppen in das Westjordanland.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu bildete im vergangenen Jahr die rechteste Regierung der Geschichte des Landes, die nun ihre Ankündigungen aus dem Wahlkampf zumindest teilweise umsetzt. Neben Netanjahus Likud sind auch rechtsextreme Parteien aus der Siedlungsbewegung an der Koalition beteiligt, denen Netanjahu weitreichende Zugeständnisse macht.

Der Parlamentsabgeordnete Zvika Fogel von der Koalitionspartei „Jüdische Stärke“ bescheinigte den gezielten Angriffen auf Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Huwara einen „Abschreckungseffekt“. „Ein abgeriegeltes, abgebranntes Huwara: Das will ich sehen“, hetzte er. Seine Parteikollegin Limor Son Har-Melech machte sich selbst auf den Weg nach Huwara und twitterte ein Foto von sich am Schauplatz der Gewalt. Sie wolle „den aufrichtigen Schrei von Hunderten Bewohnern Samarias“ unterstützen. Judäa und Samaria ist die biblische Bezeichnung für das Westjordanland, die sich im israelischen Diskurs immer mehr durchsetzt.

Israel bricht Verhandlungsziel

Während palästinensische Attentäter auch in Jerusalem Anschläge auf israelische Zi­vi­lis­t*in­nen verübten, war Hauptschauplatz des Konflikts in den vergangenen Wochen das nördliche Westjordanland. Zuletzt hatte Israel eine Razzia gegen militante Palästinenser in Nablus durchgeführt, bei der elf Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet wurden. Zu ähnlichen Vorfällen mit mehreren getöteten Zi­vi­lis­t*in­nen war es im Januar und Februar in Dschenin und Jericho gekommen. Allein seit Jahreswechsel sind mehr als 60 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet worden, bei palästinensischen Anschlägen wurden elf Menschen getötet.

„Die Situation ist höchst explosiv“, sagt der palästinensische Politiker und frühere Präsidentschaftskandidat Mustafa Barghouti der taz. Für ihn handelt es sich bei den Militäreinsätzen im Westjordanland nicht um Razzien gegen Militante, sondern um „Massaker“. In Nablus habe die Armee scharfe Munition gegen Personen eingesetzt, von denen der Großteil nicht bewaffnet gewesen sei. „Die junge palästinensische Bevölkerung fragt sich, wo die internationale Gemeinschaft ist und warum Israel über dem Gesetz steht“, sagt Barghouti. „Das führt zu einer sehr tiefen Überzeugung, dass wir nicht auf Hilfe von außen warten können, sondern selbstständig handeln müssen.“

Noch vor dem Anschlag und den gezielten Übergriffen in Huwara hatten sich am Sonntag überraschend israelische, palästinensische, jordanische, ägyptische und US-amerikanische Gesandte im jordanischen Akaba getroffen, um die Gewaltspirale zu durchbrechen. In einer Erklärung verpflichteten sich Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde, auf eine „Deeskalation“ hinzuwirken und „neue Gewalt zu verhindern“. Israels Delegation sagte zu, Diskussionen über neue Siedlungseinheiten für vier Monate auf Eis zu legen und für sechs Monate keine weiteren „wilden“ Siedlungen zu legalisieren. Diese sogenannten Außenposten sind Siedlungen, die ohne offizielle Genehmigung aus Jerusalem erbaut worden sind.

Doch schon kurz nach dem Gipfel, an dem für Israel der Chef des Innengeheimdienstes sowie der Berater für nationale Sicherheit teilnahmen, wies Netanjahu die Erklärung zurück: „Die Bauarbeiten und Genehmigungen in Judäa und Samaria werden unverändert fortgesetzt.“ Finanzminister Bezalel Smotrich twitterte: „Es wird keinen Stopp beim Siedlungsbau geben. Nicht einmal für einen Tag.“ Warum die israelischen Gesandten die Gipfelerklärung mittrugen, die Regierung sich aber distanzierte, blieb zunächst unklar.

Besiedlungen um Jerusalem

Israels neue Regierung hat den Siedlungsbau ungebremst vorangetrieben. Zuletzt genehmigte sie mehr als 7.000 neue Häuser in Siedlungen. Besonders umstritten ist das sogenannte E1-Projekt, über das nach Informationen der Organisation Peace Now im kommenden Monat beraten werden soll. Dabei geht es um die Erschließung eines großen Gebiets direkt östlich von Jerusalem im Westjor­danland.

„Die Siedlungen in der Gegend E1 zu legalisieren heißt, das Westjordanland in zwei Teile zu teilen und so jede Möglichkeit eines unabhängigen palästinensischen Staates zu verbauen“, sagt Barghouti. Er spricht von einem „Tod der Zweistaatenlösung“ und der Konsolidierung eines „Systems der Apartheid“. Alles werde auf eine Annexion des Westjordanlands durch Israel hinauslaufen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.