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Angekündigte Neuwahlen im LibanonDas System muss reformiert werden

Julia Neumann
Kommentar von Julia Neumann

Das Narrativ, der Libanon würde ohne die Aufteilung der Macht zerfallen, ist die Lebensader der Eliten. Tatsächlich muss genau dieses System enden.

Die Libanesen haben längst durschaut, wo das Problem liegt Foto: dpa

D ie Ankündigung möglicher Neuwahlen bedeutet keinen politischen Wandel im Libanon. Ein neues Parlament und Kabinett allein würden nur die Weiterführung des religiös-konfessionellen Systems bedeuten, bei dem eine kleine Elite die Macht unter sich aufteilt. Dieses oligarchische System müsste durch einen Staat ersetzt werden, dessen politische Führung das Gemeinwohl im Blick hat.

Seit Jahren wird im Libanon über politische Reformen gesprochen: Die nationale Elektrizitätsgesellschaft weist ein jährliches Defizit von fast 1,7 Milliarden Euro auf; die Staatsschulden betragen mehr als 80 Milliarden Euro. Reformen des öffentlichen Sektors aber bringen die Parteien nicht zustande, denn sie wären politischer Selbstmord.

Das Narrativ, der Libanon würde ohne die Aufteilung der politischen Macht anhand sektiererischer Linien zerfallen, ist die Lebensader der Machthabenden. Seit dem Ende des Bürgerkriegs vor 30 Jahren ziehen ehemalige Warlords die Strippen im Land. Statt einen kollektiven Heilungsprozess anzustoßen, erließen sie eine kollektive Amnestie für Kriegsverbrecher. Es fand keine Aufarbeitung statt, und die Erinnerungen an Gewalt, Krieg und Märtyrer sind essenziell für die politisch-religiösen Parteien und die Identitätsbildung innerhalb ihrer Community.

Seit 1990 hat die konfessionell-politische Elite die Ressourcen, Finanzen und Institutionen des Staates genutzt, um sich zu bereichern und in kleineren Teilen an ihre Klientel zu verteilen. Die wiederum hängt an ihrem Tropf. Die Parteien versprechen Schutz vor den „anderen“ Konfessionen, schachern ihren Anhänger*innen Jobs zu oder bezahlen für Wahlstimmen. Das System funktio­niert, weil der Staat nicht funktioniert. Weil es kaum Arbeitsplätze gibt, kein Nahverkehrssystem, keine öffentlichen Plätze, kein sauberes Trinkwasser oder keinen durchgehend Strom. Der Staat nimmt die Steuern, die über Korruption in den Taschen weniger landen. Und so glauben einige noch immer daran, dass nur die politischen Vertreter*innen ihrer Konfession ihnen beim Überleben helfen.

Erst die Abwertung der Währung, Privatisierungen oder ein ausgeglichener Haushalt würden den Eliten den Nährboden entziehen

Wohl auch deshalb wurde der französische Präsident Macron am Donnerstag von den Menschen auf der Straße bejubelt: Die Menschen wünschen sich Politiker*innen, die für sie einstehen.

Aber auch Neuwahlen können diese Politi­ker*in­nen nicht hervorbringen. Sie sind keine Bedrohung für die politischen Eliten. Eine Bedrohung sind die Reformen, die nicht nur Macron, sondern auch der IWF bei Verhandlungen um ein Rettungspaket fordern: Die Abwertung der Währung, Privatisierungen oder ein ausgeglichener Haushalt würden den Eliten den Nährboden entziehen.

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Julia Neumann
Korrespondentin Libanon
Auslandskorrespondentin für Westasien mit Sitz in Beirut. Hat 2013/14 bei der taz volontiert, Journalismus sowie Geschichte und Soziologie des Vorderen Orients studiert. Sie berichtet aus dem Libanon, Syrien, Iran und Irak, vor allem über Kultur und Gesellschaft, Gender und Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Für das taz Wasserprojekt recherchiert sie im Libanon, Jordanien und Ägypten zu Entwicklungsgeldern.
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11 Kommentare

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  • "Das Narrativ, der Libanon würde ohne die Aufteilung der Macht zerfallen, ist die Lebensader der Eliten. Tatsächlich muss genau dieses System enden."

    Eine Frage an die Autorin.



    Wogegen man demonstriert, da scheinen sich die meisten Menschen einig zu sein, wie ein neues System aussehen sollte, scheint mir unklar zu sein.

    Glauben Sie, das bei Wahlen weiterhin von einer Mehrheit in den alten Kategorien, Religion, Ethnie, etc. abgestimmt werden würde, wenn es das Proporzsystem nicht mehr gibt?

    • Julia Neumann , Autorin des Artikels, Korrespondentin Libanon
      @Sven Günther:

      Lieber Herr Günter, besten Dank für Ihre Nachfrage.

      Ich persönlich glaube, dass die Abschaffung des Proporzsystems alleine keinen politischen Wandel im Libanon bringen kann. Dafür ist die Wirtschaftskrise zu bestimmend, die sektiererischen Parteien haben noch immer viel Einfluss und auch Geld, mit dem sie Wahlstimmen erkaufen können. Die Menschen sind noch ärmer als zu Beginn der Krise. Dass der Staat seine Bürger*innen im Stich lässt und Privatpersonen oder internationale Geldgeber*innen einspringen müssen, spielt der politischen Elite in die Hände.



      Daher kann ein politischer Systemwechsel mit säkularen Kräften meiner Ansicht nach nur gelingen, wenn Reformen durchgebracht werden, die den Machthabenden den Nährboden entziehen.

      • @Julia Neumann:

        Vielen Dank für die Antwort Frau Neumann. Über die Möglichkeiten der Amal und vor allem der Hisbollah, die letzten Proteste zu beenden, hatten Sie auf Qantara letztes Jahr schon geschrieben.

        Ich befürchte schlimmes für den Libanon.

        Gebran Bassil hat die Richtung schon vorgegeben, gebt uns Geld oder die Flüchtlinge, die wir aufgenommen haben, werden sich auf den Weg zu euch machen.

        english.alarabiya....-Lebanon-collapses

        Und Flüchtlinge in Kombination mit dem Wort Millionen, sind leider ein Trigger in der EU, sich auf sehr fragwürdige Deals einzulassen.

  • Nun ja. Unter den Blinden ist der Einäugige halt König.

    Dass ausgerechnet der französische Präsident Macron ein Politiker ist, der für sie einsteht, haben viele Franzosen offenbar nicht bemerkt bisher. Sie wären sonst nicht monatelang Sturm gelaufen gegen ihre Regierung, bevor Corona für Krankenhaus- um nicht zu sagen Friedhofsruhe gesorgt hat. Aber klar: Womöglich sind ja „die Franzosen“ einfach nut undankbarer und/oder dümmer als „die Libanesen“.

    Besonders wahrscheinlich ist das allerdings nicht. Wahrscheinlicher ist, dass es leichter ist, fremder Herren Untertanen verbal von den eigenen Qualitäten zu überzeugen, als den eigenen Untertanen gegenüber den praktischen Beweis zu erbringen, dass man wirklich ein guter König ist. Einer, der nicht nur unfallfrei reden kann, wenn’s ihn nichts kostet, sondern auch unfallfrei (und vor allem halbwegs fair) regieren.

    Im Übrigen gilt natürlich umgekehrt, dass jede Regierung nur so gut sein muss, wie das Volk es von ihr verlangt. Und offenbar verlangt das französische Volk von seiner Regierung mehr Qualitätsarbeit, als das Libanesische. Das Libanesische Volk scheint sehr leicht zufrieden zu stellen zu sein. Genau wie die Eliten aller Herren Länder liebt es jeden, der ihm sagt, was es gern hören möchte - und es ansonsten nicht weiter behelligt. Außer vielleicht, um es zu beschenken.

  • 9G
    90564 (Profil gelöscht)

    wär vielleicht auch mal der moment, über den apartheitstaat libanon zu sprechen?

    • @90564 (Profil gelöscht):

      Das südafrikanische Apartheidsregime liegt auf dem Müllhaufen der Geschichte. Viele Unrechtsregime sind dort. Auch wenn viele Unrechtsregime viel schlimmer mit Menschen umgegangen sind als es Israel unter Netanjahu mit den arabischstämmigen Bewohnern praktiziert und es auf palästinensischer Seite auch Terroristen gibt, rechfertigt das nicht die fortgesetzte Verletzung von Menschen- und Völkerrecht.

      Ihre Argumentation ist ein klassischer logischer Fehlschluss, heutzutage als "Whataboutism" bekannt.

      • @Paco:

        Wie kommen Sie auf Israel? Wer ausser Ihnen spricht von Israel? Weder der Artikel, noch Werwill Daswissen.

    • @90564 (Profil gelöscht):

      Nur weil andere Leuten Stuss schreiben, muss man ihnen das nicht nachmachen.

      • 9G
        90564 (Profil gelöscht)
        @Sven Günther:

        wie würden sie denn die bedingungen nennen, unter denen die sog "palästinensischen flüchtlinge" seit über 70jahren leben müssen?

        • @90564 (Profil gelöscht):

          Die Frage ist doch, wollen die Leute libanesische Staatsbürger werden, das wollen sie in der Regel nicht und das es mit der "arabischen Solidarität " nicht weit her ist, wissen wir auch beide.

          Dauerhafte Flüchtlingscamps gibt es leider an vielen Orten auf der Welt.

      • @Sven Günther:

        Vielleicht merken andere Leut nur so endlich, dass es Stuss ist?



        Tatsächlich ist die Behandlung der Palästinenser als Menschen 2. Klasse nichts Anderes. Eine verdammte Schweinerei.