AnarchistInnen über Belarus: „Ich hörte Schreie aus den Zellen“
Die beiden belarussischen AnarchistInnen Nastja und Alexej sind in die Ukraine geflohen. In Minsk saßen sie nach einer Demo mehrere Tage im Gefängnis.
taz: Nastja*, Alexej*, Sie sind beide aus Belarus geflohen. Wir müssen uns deshalb hier in Kiew treffen. Am 9. August waren Sie in Minsk direkt nach einer Kundgebung festgenommen worden. Was haben Sie in der Haft erlebt?
Nastja: Am Anfang war die Polizei noch nicht so brutal bei der Verhaftung. Wer kooperiert hatte, wurde nicht geschlagen. Ich habe aber nicht kooperiert. Die ganzen Nächte habe ich die Schreie aus den Zellen der männlichen Gefangenen gehört. Wenn jemand schon schwer misshandelt worden war, hat man häufig einen Krankenwagen rufen müssen.
Warum hat man die Gewalt gegen die Gefangenen eskalieren lassen?
Nastja: Ich denke, die haben am ersten Tag gedacht, dass sie uns nun genügend eingeschüchtert haben. Doch die Demonstrationen sind weitergegangen. Und deswegen haben sie einfach die Gewalt eskaliert.
Wie und zu welchen Themen arbeiten Sie?
Nastja: Wir sind immer dabei, wenn es Probleme gibt, die die Gesellschaft in Belarus bewegen. Seien es Streiks, Aktionen gegen Wehrpflicht, gegen Polizeigewalt und Steuererhöhungen. Wir Anarchisten machen viele eigene kleine und dezentrale Aktionen, marschieren mitunter aber auch ganz vorne bei Demonstrationen mit. Vor den diesjährigen Protesten hatten wir uns zuletzt im Jahr 2017 an den Protesten gegen die Diskriminierung der Arbeitslosen beteiligt. Damals hatte die Regierung eine Sondersteuer für „Nichtstun“ geplant.
Die beiden sind aus Belarus und leben in Kiew. Ihren wahren Namen wollen sie nicht verraten. Alexej ist vor einem Jahr in die Ukraine geflohen, Nastja hatte sich an den Protesten gegen die Wahlfälschung beteiligt und war sofort am 9. August abends inhaftiert worden. Nach viereinhalb Tagen wurde sie aus der Haft entlassen, wenig später floh sie in die Ukraine. Der Treffpunkt für das Interview ist an der Kiewer U-Bahn-Station Universität. Alexej ist ein Hüne von Mann, mit Glatze und einem muskulösen Körper. Er könnte auch Polizist sein. Seine Mutter ist Ukrainerin, sein Vater Russe. Nastja ist mindestens zwei Köpfe kleiner als ihr schwergewichtiger Genosse, trägt ein schwarzes Jäckchen mit Kapuze. Ihr Auftreten passt eher zu einer politisch aktiven Frau aus der autonomen Szene.
Alexej: Nicht immer bleibt es bei Streiks, Plakaten und Transparenten. 2010 hatten belarussische Anarchisten einen Molotowcocktail auf ein parkendes Auto der russischen Botschaft geworfen. 2018 flog ein Molotowcocktail auf die Steuerbehörde von Gomel, wenig später auf ein Gebäude von Gerichtsvollziehern. Ich würde das nicht machen. Aber wir respektieren Genossen, die sich zu einer derartigen Aktion entschlossen haben. Doch derartige Aktionen sind nicht effektiv. Die Medien ignorieren sie, und wer erwischt wird, dem drohen mindestens drei Jahre Haft.
Mit wem arbeiten Sie zusammen?
Alexej: Wir wollen nichts mit Nationalisten zu tun haben und wir wollen uns auch nicht von Parteien benutzen lassen. Das würde denen so passen, uns als Kanonenfutter zu benutzen, und sobald sie uns nicht mehr brauchen, werden sie uns wieder fallen lassen. Nein, wir gehen natürlich auf Demonstrationen mit, aber die Aktionen, die wir machen, sind unsere eigenen Aktionen.
Wie geht es weiter in Belarus?
Alexej: Das Hauptproblem des Landes ist das System Lukaschenko. Erst wenn dieses ganze System zerstört ist, können wir freier leben.
Wie sind die Chancen eines friedlichen Machtwechsels?
Alexej: Diktatoren verabschieden sich in der Regel nicht friedlich. Die Protestierer hoffen leider immer noch auf friedliche Veränderungen. Aber ich glaube, das funktioniert nicht. Sehen Sie sich doch mal Venezuela an. Maduro geht nicht, obwohl das Volk gegen ihn auf die Straße geht. Den Machtapparat hat er weiter hinter sich und mehr braucht ein Diktator nicht.
Ja, was muss dann geschehen?
Alexej: In Belarus kämpft niemand mit Waffen gegen Lukaschenko. Leider. Wenn die Protestierer in Belarus Waffen hätten, wäre das Kräfteverhältnis gerechter.
* Die realen Namen sind unbekannt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid