Analyse der Energiewende: Neue Trassen braucht das Land?

Zu Hochspannungsleitungen kursieren einfache Wahrheiten – trotz vieler Variablen, bis hin zum Gas. Mehr politische Vorgaben sind vonnöten.

Über den Bedarf an Speichern und Netzen entscheidet der künftige Stromverbrauch Bild: dpa

BERLIN taz | Die scheinbaren Wahrheiten der Energiewende sind so herrlich eingängig: Weil die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht, braucht man riesige Stromspeicher; und weil der Windstrom aus dem hohen Norden ja irgendwie in den deutschen Süden muss, sind mehrere neue Hochspannungstrassen nötig. Doch so einfach ist das alles bei genauer Betrachtung nicht – daher: eine Analyse.

Sie beginnt mit der so oft gehörten Frage: Welche Mengen an Speichern und Netzen sind denn aus technischer Sicht überhaupt nötig? Und schon ist man mitten im Problem: Auf diese Frage kann es keine eindeutige Antwort geben.

Deutlich machen das zwei Extrembeispiele. Im ersten Fall setzt man allein auf Speicher: Hat man davon ausreichend, braucht man überhaupt keine Netze mehr – wie etwa ein Haus mit einer Photovoltaikanlage auf dem Dach und einer ausreichenden Batterie im Keller. Der andere theoretische Extremfall ist ein weltumspannendes, leistungsstarkes Stromnetz; weil auf der Erde immer irgendwo die Sonne scheint, wären damit nun jegliche Speicher verzichtbar.

Ergo: Stromleitungen können den Bedarf an Speicherkapazitäten verringern, Speicher umgekehrt den Netzausbau. In der Praxis wird ein Land freilich niemals eines der beiden Extreme wählen, sondern Speicher wie auch Netze in Maßen ausbauen. Doch die Frage, wo das technische und auch ökonomische Optimum im Verhältnis von Speichern und Netzen liegt, kann niemand eindeutig beantworten.

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Hochflexible, dezentrale Gaskraftwerke

Schon allein, weil der Bedarf auch an der Struktur des Kraftwerksparks hängt. Heute sind in Deutschland noch viele Kraftwerke am Netz, die aus technischen oder ökonomischen Gründen möglichst gleichmäßig Strom zu erzeugen bestrebt sind. Besonders Atommeiler und Braunkohlekraftwerke fallen darunter, eingeschränkt auch Steinkohlekraftwerke.

Sollten diese trägen Kraftwerke eines Tages durch hochflexible (möglichst dezentrale) Gaskraftwerke ersetzt werden, die immer nur dann laufen, wenn die erneuerbaren Energien die Nachfrage allein nicht decken können, kann mancher Kilometer Stromtrasse eingespart werden. Denn es müssen nicht mehr so viele überflüssig erzeugte Kilowattstunden abgeführt (oder auch gespeichert) werden.

Der Effekt ist umso stärker, je dezentraler die flexiblen Stromerzeuger platziert und je klüger sie gesteuert werden. Heute richten solche sogenannten Blockheizkraftwerke (das sind Kleinkraftwerke, die Strom und Wärme zugleich erzeugen) ihren Betrieb überwiegend am lokalen Wärmebedarf aus. Der Strom wird als Nebenprodukt eingespeist. Dieses Konzept ist in Zeiten steigender Anteile von Windkraft und Photovoltaik im Stromnetz nicht mehr sinnvoll: Künftig werden die Anlagen vermehrt gemäß den Anforderungen des Strommarkts laufen. Die Wärme wird dann gespeichert – was leichter ist, als Strom zu speichern.

Künftiger Stromverbrauch entscheidet

Und was nun für die Stromerzeugung gilt, trifft für den Stromverbrauch nicht minder zu: Auch die intelligente Steuerung der Nachfrage, also deren zeitliche Verlagerung, kann den Bedarf an Netzen wie auch an Speichern reduzieren. Man nutzt also Strom vor allem dann, wenn dieser gerade reichlich vorhanden ist. In vielen Branchen geht das schließlich.

Kühlhäuser können auf Vorrat kühlen, und dann tagelang ohne Strom auskommen, Wasserversorger können ihre Förderpumpen viele Stunden ruhen lassen, wenn ihre Hochbehälter voll sind. Und auch Chemiefirmen oder Metallverarbeiter – sehr energieintensive Branchen – können bestimmte Produktionsschritte bei hohem Stromangebot vorziehen.

Vor allem aber entscheidet über den Bedarf an Speichern und Netzen auch schlicht der künftige Stromverbrauch. So könne, errechnete die Denkfabrik Agora Energiewende kürzlich, der langfristige Ausbaubedarf im deutschen Übertragungsnetz bis zum Jahr 2050 „bei einer deutlichen Steigerung der Energieeffizienz von 8.500 Kilometer Leitungslänge auf einen Ausbaubedarf zwischen 1.750 und 5.000 Kilometer gesenkt werden“.

Kann die Ökonomie es richten?

Weitere technische Optionen gibt es außerdem: Statt Windstrom aus Norddeutschland in den Süden zu leiten, kann man diesen in Zeiten des Überflusses vor Ort in Wärme umsetzen. Das heißt dann Power to Heat und spart Erdgas. Dieses kann dann im Süden, wo Strom benötigt wird, verstromt werden.

Und das ist nur der erste Schritt. Im zweiten Schritt – dann Power to Gas genannt – wird überschüssiger Strom genutzt, um per Elektrolyse Wasserstoff und womöglich später in einem Zusatzschritt gar Methan (also Erdgas) zu erzeugen. Die Ausbeute bei der Umwandlung von Strom zu Erdgas beträgt zwar nur rund 60 Prozent. Aber das ist immer noch deutlich besser, als wenn man Windräder bei starkem Wind abschaltet und so den Strom gar nicht erst erzeugt.

Bis zu einem Anteil von 5 Prozent lässt sich Wasserstoff ins Erdgasnetz einspeisen, Methan freilich ohne Limit. Die Gase gelten als das einzig praktikable Medium, mit dem man Milliarden von Kilowattstunden speichern kann. Im bestehenden deutschen Gasnetz mit seinen Kavernen lässt sich auf diese Weise Strom für vier Monate bereithalten.

Bayern blockiert

Und das Gasnetz ist weit verzweigt. Wenn das Methan in Norddeutschland erzeugt und in Süddeutschland wieder verstromt wird, kommt der Windstrom auch ohne neue Hochspannungstrassen in die Industriestädte – eben per Pipeline in Form energiereicher Kohlenwasserstoffmoleküle.

Nun werden Marktwirtschaftler sagen: Alles schön und gut, wenn es so viele Optionen gibt, dann soll es eben die Ökonomie richten; dann soll sich im Kampf um Netze, Speicher und dergleichen die billigste Variante im Wettbewerb behaupten. Klingt logisch, aber auch damit kommt man nicht weiter. Denn es konkurriert hier ein freier Markt (Speicher) mit einem staatlich regulierten Markt (Netze). Folglich kann das freie Spiel der Kräfte nicht funktionieren, man braucht somit zwingend politische Vorgaben.

Und genau um die wird nun gerungen. Während einige Umweltverbände der bayerischen Kritik am Trassenbau durchaus etwas abgewinnen können, kritisieren die Grünen in Berlin die Position der CSU vehement: „Bayern blockiert die Energiewende auf ganzer Linie“, sagte zum Beispiel jüngst Julia Verlinden, Sprecherin für Energiepolitik der Bundestagsfraktion. Ohne die neuen Leitungen werde der Umstieg von der alten fossil-atomaren auf eine vollständig erneuerbare Stromversorgung nicht gelingen.

Wie gesagt: eine eingängige These. Aber auch eine fragwürdige.

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