Amnesty-Expertin zur Asyl-Debatte: „Es gibt keine Integrationsmüdigkeit“
Die gesellschaftlich-mediale Debatte spiegelt nicht die Haltung in der Bevölkerung wider, sagt Franziska Vilmar. Die politischen Entscheidungen seien aber verheerend.
taz: Frau Vilmar, haben die Deutschen genug von den Flüchtlingen?
Franziska Vilmar: Es ist genau diese falsche Behauptung, die Menschen „da draußen“ seien integrationsmüde und wären nicht mehr zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit, mit der all die restriktiven gesetzlichen Abschottungsmaßnahmen begründet und getroffen werden.
Wie ist die Stimmung denn tatsächlich?
Das Integrationsbarometer des Sachverständigenrats Migration hat in der vergangenen Woche sehr deutlich in einer Studie mit über 9.000 Befragten gezeigt: die Alltagserfahrungen im Zusammenleben zwischen Deutschen und Migrantinnen und Migranten sind deutlich besser als der Diskurs. Die Haltung speziell gegenüber Flüchtlingen ist weitaus positiver, als man hätte annehmen können, angesichts des scharfen Tons in der gesellschaftlich-medialen Debatte.
ist Fachreferentin für Asylpolitik und Asylrecht bei der deutschen Sektion von Amnesty International
Gemeinsam mit Pro Asyl kritisieren Sie die Bundesregierung und die EU nun heftig wegen ihrer Asylpolitik. Steht es wirklich auf allen Ebenen so schlimm?
Wir haben bei unserer letzten gemeinsamen Pressekonferenz vor einem Jahr lange darüber diskutiert, ob es etwa die Obergrenzen überhaupt geben darf. Nun ist sie Realität. Nehmen Sie die Familienzusammenführung: Seit August gilt hier eine monatliche Obergrenze von 1.000 Menschen. Es geht um Familien aus einigen der schlimmsten Kriegsregionen der Welt, die teils Jahre auseinander gerissen werden. Es gingen nun 853 Anträge auf Familienzusammenführung ein, nur 65 wurden vom Bundesverwaltungsamt positiv beschieden und nur 42 Personen erhielten ein Visum. 42!
Einer der Punkte, an dem die Große Koalition fast zerbrochen wäre, ist die direkte Zurückweisung von Flüchtlingen an den deutschen Grenzen. Die findet nun seit einigen Wochen statt. Sie kritisieren dies als rechtswidrig. Warum klagen Sie nicht?
Es ist ganz schwierig zu klagen, wenn man so wenige Informationen hat. Die Bundesregierung hat offenbar Abkommen für die direkte Zurückweisung mit Italien, Griechenland und Spanien abgeschlossen – die Abkommen werden aber geheim gehalten. Beim BMI liegt deshalb eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz. Der erste Präzedenzfall einer Zurückweisung stammt von Ende August. Flüchtlingsorganisationen versuchen, die Person jetzt in Griechenland ausfindig zu machen. Sobald wir den Text der Abkommen oder Kontakt zu einem Betroffenen haben, kann man klagen.
Jetzt kommt der türkische Präsident Erdogan nach Deutschland. Das Abkommen mit der Türkei hat die Flüchtlingsbewegung aus Syrien Richtung Europa gestoppt. Bleibt es dabei?
Zu den Folgen des EU-Türkei-Deals zählt, dass die im März 2016 noch offene türkische Grenze zu Syrien geschlossen wurde. Die Bundeskanzlerin sollte sich gegenüber Erdogan dafür einsetzen, dass diese Grenze zumindest für Menschen, die vor den Angriffen auf Idlib fliehen, geöffnet wird. Zugleich ist die internationale Gemeinschaft aufgefordert, stärker als bisher syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen. Viele Flüchtlinge in der Türkei haben nach wie vor weder angemessenen Wohnraum, noch die Möglichkeit, sich und ihre Familien aus eigener Kraft zu versorgen.
Eine weitere Folge des Abkommens ist, dass viele Flüchtlinge auf den griechischen Inseln festgehalten werden, darunter 2.500 Kinder. Gestern meldete die Organisation SOS Kinderdörfer, dass es dort schon Selbstmordversuche von Zehnjährigen gegeben habe. Hat Sie das überrascht?
Dass die inzwischen über 20.500 Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln in erbärmlichen Zuständen verharren und in menschenunwürdigen Umständen vor sich hinvegetieren, gehört leider zum gewollten Abschreckungseffekt des EU-Türkei-Deals. Über Monate hinweg fehlt es diesen Menschen an einer angemessenen hygienischen Versorgung, es gibt zu wenig Ärzte, Frauen und Kinder sind sexuellen Übergriffen ausgeliefert, Schule fällt aus. Die Menschen warten nicht auf die Prüfung ihres Asylantrags, sondern vor allem darauf zu erfahren, ob Griechenland ihren Antrag überhaupt für zulässig erachtet. Falls nicht, sollen sie laut Deal zurück in die Türkei geschoben werden.
Das scheint die Blaupause für die künftige Linie zu sein: Die EU will, dass künftig bei jedem Asylverfahren geprüft werden muss, ob nicht ein Drittstaat außerhalb der EU für das Asylverfahren zuständig sein könnte. Wie soll das funktionieren – und welche Länder kämen da überhaupt in Frage?
Durch dieses im Zuge der Reform der Dublin-Verordnung geplante Vorgehen würden Deutschland und andere EU-Länder ihre Verantwortung für den Flüchtlingsschutz endgültig abwälzen – von den Außengrenzen hin zu den EU-Nachbarstaaten. Zum Glück hat man sich bislang nicht darauf einigen können. Bei diesem so genannten „obligatorischen Zulässigkeitsverfahren“ heißt es immer, es sei nicht an Libyen gedacht. Wen man stattdessen im Auge hat, ist nicht klar. Möglicherweise Ägypten oder Tunesien. Ich halte solche Verlagerungen derzeit an keiner Stelle für möglich. In keinem dieser Länder gibt es ein Asylverfahren, um angemessenen Schutz zu gewähren.
Franziska Vilmar, Amnesty International
Trotzdem scheint es darauf hinauszulaufen, dass Flüchtlinge immer stärker auf die Nachbarstaaten der EU abgewälzt werden sollen. Die will dafür nun „regionale Ausschiffungsplattformen“ errichten. Wo könnten die entstehen – und was würde dort aus den Flüchtlingen?
Da werden unterschiedliche Modelle diskutiert. Erst einmal sollen die Flüchtlinge und Migranten an Land gebracht und versorgt werden. Entweder werden sie dann weiterverteilt – oder es gibt ein vorläufiges Asylverfahren durch den UNHCR. Jene, die Schutz bekommen, könnten dann möglicherweise per Resettlement in die EU ausreisen oder vor Ort Schutz bekommen. Die anderen würde die IOM in ihre Herkunftsländer zurückbringen. Perspektivisch könnte das natürlich damit verknüpft werden, die Asylverfahren aus Verfahren aus Europa dann insgesamt an solche Orte zu verlegen. Vorher braucht man allerdings von einem Drittstaat das Signal, dass er dafür zur Verfügung steht. Das ist nicht in Sicht. Die andere Frage ist, wer überhaupt noch Flüchtlinge im Meer aufsammeln und zu diesen Ausschiffungsplattformen bringen soll – es sind ja keine Rettungsschiffe mehr da.
Sie weisen darauf hin, dass das Personal der EU-Grenzschutzagentur Frontex auf 10.000 Grenzbeamte aufgestockt werden soll und diese fortan auch für Abschiebungen zuständig sein sollen. Über Abschiebungen entscheiden aber nationale Ausländerbehörden. Soll sich das ändern?
Frontex soll sich jedenfalls viel umfänglicher um Abschiebungen kümmern. Die nationalen Ausländerbehörden befürchten deshalb in der Tat, dass sie der Souveränität beraubt werden. Neu ist, dass Frontex künftig sogar in Drittstaaten bei der Abschiebung von Migranten in andere Drittstaaten mitmachen soll – verbunden mit einem umfangreichen Datenaustausch. Die EU-Kommission hat übrigens außerdem eine Neufassung der EU-Rückführungsrichtlinie vorgeschlagen, die neben einem endlosen Katalog an Gründen, die die Haft rechtfertigen, die Dauer der Abschiebungshaft auf mindestens drei Monate vorsieht.
Seit Jahren kommen Innenpolitiker praktisch ohne Unterlass mit neuen Ideen, um das Asylrecht zu verschärfen. Kommt da noch mehr – oder ist dieser Abbau nun bald abgeschlossen?
Ich habe keine Idee, wie es noch schlimmer kommen könnte, dazu fehlt mir die Fantasie. Allerdings hätte ich schon den EU-Türkei-Deal nicht für möglich gehalten. Insgesamt versucht Europa jegliche Art von Verantwortung loszuwerden, das ganze Asylsystem soll es nur noch auf dem Papier, aber nicht mehr in der Praxis geben. Die Frage ist ja auch, wer nun noch dagegen halten soll. Merkel war auf europäischer Ebene – trotz aller Verschärfungen, die sie mitgetragen hat – wenigstens beim Thema Solidarität eine einsame Ruferin in der Wüste. Jetzt scheint sie aber auch an Einfluss zu verlieren.
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