Altern in Deutschland: Die Lüge vom guten Altwerden
Wer heute in Deutschland geboren wird, wird im Schnitt über 80 Jahre alt. Gleichzeitig hatte das Alter noch nie einen so schlechten Ruf. Warum?
Die greise Frau, mit Kohlestrichen gezeichnet, ist Albrecht Dürers Mutter Barbara. In ein loses Hemd gekleidet, ein Tuch über dem Haar, blickt sie mit blinden Augen am Maler vorbei. Der Wangenknochen schiebt sich zur Oberfläche, darunter fällt die Wange ein. Und auch das Schlüsselbein zeichnet sich unter der Haut ab. Die schmalen Lippen sind zusammengepresst, die Stirn liegt in unzähligen Falten. Sie ist 62 Jahre alt.
Dürers Porträt der eigenen Mutter von 1514 gilt als erstes realistisches Bild eines alten Menschen. Es zeigt, wie sehr das hohe Alter lange Zeit vor allem als Lebensphase des Leidens und Gebrechens galt. Wer das Erwachsenenalter überlebte, hatte vor allem gelitten. So schrieb Dürer: „Diese meine fromme Mutter hat 18 Kinder tragen und erzogen, hat oft Pestilenz gehabt, viel andrer schwerer und merklicher Krankheit, hat große Armut gelitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Wort, Schrecken und große Widerwärtigkeit.“
500 Jahre nachdem Dürers Kohlezeichnung entstand, ist die Lebenserwartung in Deutschland auf über 80 Jahre geklettert. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sauberes Trinkwasser und Impfungen verhindern, dass viele Kinder schon im ersten Lebensjahr sterben, soziale Sicherungs- und Gesundheitssysteme erreichten irgendwann auch die Armen, Antibiotika retten die Leben von Millionen Menschen, die an einer Lungenentzündung oder infizierten Wunden leiden, und flächendeckende Vorsorgeuntersuchungen geben Ärzten die Chance, bösartige Krankheiten früher zu erkennen und zu behandeln.
Immer fitter, mobiler, jünger
Die Medizin fand aber nicht nur Wege, das Leben zu verlängern, sondern auch Möglichkeiten, das Leben alter Menschen lebenswerter zu machen: 800.000 Menschen, die unter Grauem Star, einer Trübung der Augenlinse und typischen Alterskrankheiten leiden, werden allein Deutschland jedes Jahr operiert und können danach wieder deutlich besser sehen. Und wer sich den Oberschenkelhals bricht und vorher mobil war, hat heute dank ausgeklügelter chirurgischer Techniken gute Chancen, schon nach Stunden wieder mit dem Laufen zu beginnen.
Damit hat sich auch unsere Wahrnehmung des Alters auf den Kopf gestellt: Immer mobiler, immer fitter, immer jünger wollen die Alten sein.
„Die Lebensweise alter Menschen ist heute deutlich vielfältiger als früher, vielleicht sogar vielfältiger als die junger“, sagt Julia Twigg, Professorin für kulturelle Altersforschung an der University of Kent in England. „Das liegt auch daran, dass Alte weniger Zwängen durch Arbeit oder Familie ausgesetzt sind als junge Menschen.“
Entscheidenden Anteil daran, dass die Bilder vom Altern immer vielfältiger geworden sind, hatten die Jugendbewegungen des 20. Jahrhunderts. Zum Beispiel der Punk.
Alte Menschen beim Sex? Kein Tabu mehr
Die Punkszene entstand Ende der siebziger Jahre als Auffangbecken für Menschen, die „sich desillusioniert, machtlos und von der Gesellschaft ausgestoßen fühlten“, erzählt der Soziologe Andy Bennett. Bennett hat für seine Doktorarbeit Altpunks in Kent, Lille und Adelaide interviewt und begleitet: „Für viele war die Bewegung ein neues Zuhause.“ Sie waren jung und besetzten Häuser, verweigerten den Wehrdienst und provozierten die Bürgerlichen mit chaotischer Musik, bunten Haaren und Tattoos. Es ging gegen die Eliten, es ging um Freiheit und den Abbau von sozialen Tabus.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Was klein begann, veränderte die Gesellschaft. „Die dominante Mainstream-Gesellschaft und antihegemoniale Subkulturen wie der Punk reiben sich aneinander. Dabei nimmt die Mainstream-Kultur langsam, aber sicher Aspekte und Ansichten der Subkultur auf.“ Bennett, der inzwischen eine Professur an der Griffith University in Australien hat, sieht darin den zentralen Mechanismus der sozialen Evolution. Zusammen mit anderen Bewegungen wie dem Feminismus und der Studentenbewegung brach der Punk auf diese Weise soziale Normen auf.
Und weil die Punks und die 68er langsam alt werden, erreicht die neu gewonnene Freiheit heute auch das Alter. Julia Twigg erklärt: „Heute sehen wir, dass die Tabus, die mit einem alternden Körper verbunden waren, radikal verschwinden.“
Der deutsche Film „Wolke 9“ handelt von einem Ehepaar um die 70, das schon dreißig Jahre verheiratet ist, bis sich die Ehefrau in einen anderen Mann verliebt. Gleich zu Beginn des Films haben die zwei Protagonisten Sex. In der intimen Szene, die mehrere Minuten dauert, küssen sie ihre ins Alter gekommenen Körper, rollen auf einem Teppich herum und stöhnen.
Auch die Mode für alte Menschen ändert sich. Twigg forscht zu Kleidung und Mode im Alter. Es gab zum Beispiel geläufige Ideen dazu, was ältere Frauen tragen sollen: dunklere Farben, Schnitte, die weiter sind, und keine Kleidung, die aufreizend ist. Das ändert sich: Heute tragen auch ältere Frauen Körperbetontes und Farbenfrohes.
Früher war Altern natürlich, jetzt ist es eine Krankheit
Es ist dieses Versprechen, das die ganze Gesellschaft macht: Es gibt keine Grenzen mehr im Alter. Mit 70 den Schwiegersohn unter den Tisch trinken. Mit 73 zum achten Mal Vater werden, so wie Mick Jagger vergangenes Jahr. Oder mit 80 den Mount Everest besteigen, wie das der Japaner Yuichiro Miura tat. Kann dieses Versprechen halten?
Jahrhundertelang galt Altwerden als natürlicher, unausweichlicher Prozess. Ein Prozess, der biologisch gesehen vor allem Zerfall ist. Telomere, die Enden der Chromosomen, die in jeder Körperzelle die Erbinformation speichern, schwinden mit dem Alter. Die Menge an Kollagen, ein Teil des Bindegewebes, das unsere Haut straff macht, nimmt mit jedem Lebensjahr ab. Und unser Gehirn wird immer unflexibler, kann sich bei neuen Reizen nicht mehr so schnell umprogrammieren. Während die Medizin erkannte, dass bestimmte Erkrankungen wie Krebs oder Demenz sich im Alter häufen, galt Altern selbst nicht als krankhaft. Seit Kurzem aber gibt es immer mehr Wissenschaftler, wie den Genetiker Sven Bulterijs, die Altern für eine Krankheit halten. Nun ist das nicht allein eine Frage der Definition, die nur Genetiker und Ärzte etwas angeht. Denn wenn Altwerden eine Krankheit ist, wird es zu etwas Behandelbarem, für das es eine technische Lösung gibt.
Das hat auch das Silicon Valley erkannt. Die Google-Tochter Calico, die inzwischen mit verschiedenen medizinischen Hochschulen und Pharma-Unternehmen zusammenarbeitet, hat es sich zum Ziel gemacht, Altern zu verstehen und zu überwinden. Dafür hat Calico mehr als 1,5 Milliarden US-Dollar Budget. Das Unternehmen geht auf Bill Maris zurück, der angeblich 39 ist, in Fernsehauftritten mit Gelfrisur und offenem Hemd aber aussieht wie ein Endzwanziger. Und dieser Maris sagte vor Kurzem gegenüber Bloomberg: „Wenn Sie mich heute fragen, ob es möglich ist, 500 zu werden, dann ist meine Antwort: Ja!“
Wenn Altern heute als Krankheit gilt, ist nur folgerichtig, dass niemand etwas damit zu tun haben will. Eindrücklich zeigt das eine Studie amerikanischer Psychologen, die den Sprachgebrauch der letzten 200 Jahre analysiert. In einer Datenbank, die mehr als 400 Millionen englische Wörter aus verschiedensten amerikanischen Quellen umfasst, suchten sie nach Synonymen für Alter. Dann erforschten sie, mit welchen Wörtern diese zusammen erscheinen. Im Laufe der Zeit fanden sie sich immer häufiger gemeinsam mit negativen Begriffen wie Krankheit, Verfall oder Gebrechlichkeit und immer weniger mit positiven Begriffen wie Ausdauer, Erfahrung oder Weisheit.
Das Alter hat den schlechtesten Ruf seit 200 Jahren. Gleichzeitig gibt es das Versprechen des guten Alters: Wir werden immer älter und können immer mehr machen. Wie passt das zusammen?
Wer alt geschätzt wird, fühlt sich auch älter
Eigentlich meinen wir, wenn wir von Alter reden, zwei verschiedene Gruppen. Junge Alte und alte Alte. Wer in welche Gruppe gehört, ist auch eine Klassenfrage. „Das ‚forever young‘ ist ein Credo der oberen sozialen Schichten“, sagt Andreas Kruse, Professor für Altersforschung in Heidelberg. Mit anderen Worten: Wer mehr besitzt, hat auch bessere Chancen, glücklich, mobil und gesund alt zu werden.
Gut beobachten kann man das am Eintritt ins Rentenalter. Das Ende des Arbeitslebens ist für Alterssoziologen ein extrem bedeutsamer Punkt in der Biografie alternder Menschen. Wohlhabende Menschen schaffen es viel besser, ihren Lebensstil auch ins Rentenalter zu retten. Ihr soziales Netzwerk ist oft enger geknüpft und stabiler, Geld und Bildung kitten den Riss, der entsteht, wenn das Arbeitsleben von einem Tag auf den nächsten endet. Bei Menschen aus unteren sozialen Schichten, erklärt Kruse, beobachte man hingegen noch sehr häufig einen regelrechten „Pensionstod“: Das Band zum alten Leben, zu Freunden und damit auch zur Rolle in der Gesellschaft reißt.
„Ageismus“, erklärt Andreas Kruse, „also die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Alters, hat zugenommen.“ Es scheint so, als herrsche eine stillschweigende Übereinkunft darüber, dass gebrechliche, alte Menschen in der Mitte der Gesellschaft nichts verloren haben. Insbesondere viele junge Alte wollen mit den alten Alten nichts mehr zu tun haben. Die alten Alten – pflegebedürftig, dement oder schwer krank – werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Was für sich genommen schlimm genug ist, führt auch zu einem sich selbst verstärkenden Effekt. Denn Menschen, die aufgrund ihres Alters diskriminiert werden, fühlen sich älter: Je pessimistischer sie auf das Alter blicken, desto häufiger bekommen sie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Sie bauen geistig schneller ab und fühlen sich psychisch labiler. Und sie leben im Durchschnitt siebeneinhalb Jahre kürzer, wie eine Studie der Yale-Universität dokumentiert, die 660 Teilnehmer über einen Zeitraum von 23 Jahren begleitete.
Das liegt daran, erklärt der Psychologe Hans-Werner Wahl, der in Heidelberg eine Professur hat, dass „negative Altersbilder eine niedrigschwellige Stressreaktion in uns auslösen“. Das Stresshormon Cortisol, der Blutdruck und die Herzfrequenz steigen, auf Dauer ist das nicht gut für das Herz, die Gefäße und das Gehirn.
Ein Lächeln auf den Lippen
Das Versprechen vom guten Alter für alle ist also eine Lüge. Es richtet sich nur an die jungen Alten, die alten Alten schließt es aus. Es richtet sich an diejenigen, die es geschafft haben, sich auf der Höhe des Lebens zu konservieren. Sobald aber das Alter über sie hereinbricht – oft reicht dafür ein Sturz, von dem man sich nicht erholt –, löst sich das Versprechen auf. Plötzlich tritt das Kleingedruckte in Kraft, das man nie gelesen hat, das aber schon immer lautete: Alter kann vieles bedeuten, aber vergiss nicht, dass Krankheit und Gebrechen dazugehören! Anders, als die Gesellschaft verspricht, können wir nicht alle gut alt werden. Es wird immer Menschen geben, die Pech haben und an Krebs erkranken oder an Demenz; oder die aufgrund ihres sozialen Status ihr Sozialleben nicht ins Rentenalter retten können. Daran haben Jahrhunderte medizinischer Forschung nichts geändert. Und daran wird auch googles Calico nichts ändern.
Was also tun?
Es geht darum, als Gesellschaft ein realistisches Bild vom Alter auszuhalten, ein Bild, das die guten und die schlechten Seiten gleichsam enthält. Es geht um eine inklusive Gesellschaft, in der Platz für alle ist.
Manche Kunsthistoriker wollen auf den Lippen von Dürers Mutter ein Lächeln gesehen haben. Das Porträt, mutmaßen sie, half Dürer, seine Mutter zu erinnern, die zwei Monate später starb. Eine Frau, auf die er wohl mit großer Liebe blickte. Und mit einem unverstellten Blick, der ihre Weisheit und ihren Wert als Menschen genauso wahrnahm wie ihr Gebrechen. 500 Jahre später können wir noch immer von diesem Blick lernen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Frauenfeindlichkeit
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich