Alpinist über tauenden Permafrost: „Der Klebstoff geht verloren“
Der Klimawandel wirkt sich auch auf die Berge aus. Angst vorm Bergsteigen braucht man nicht zu haben, sagt Michael Larcher. Er rät, wie man sich vor Gefahren schützt.
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taz: Herr Larcher, Mitte Juni brachen am Fluchthorn im Silvrettagebiet eine Million Kubikmeter Gestein ab und rauschten bergab. Muss man damit rechnen, dass solche Bergrutsche mit voranschreitender Erderwärmung häufiger auftreten?
Michael Larcher: Meine Meinung als Alpinist ist, dass Bergstürze wie am Fluchthorn auch weiterhin sehr selten bleiben werden. Vielleicht sind es in Zukunft keine Jahrhundertereignisse mehr, aber zur Regel werden sie wohl nicht. Für uns als Bergsteiger:innen sind die vermeintlich kleineren Ereignisse, die mit Klimawandel, Permafrost- und Gletscherschmelze einhergehen, bedeutsamer. Probleme, mit denen ich mich auf jeder Hochtour auseinandersetzen muss, stellen sich jetzt in verschärfter Form. In den letzten 20 Jahren haben zum Beispiel Steinschlag und Spaltenstürze zwar nicht dramatisch, aber doch messbar zugenommen.
Der Anlass für den Gesteinsabrutsch am Fluchthorn war tauender Permafrost, heißt es. Was genau ist Permafrost?
Es gibt in den alpinen Regionen ab einer bestimmten Höhe einen Punkt, wo die Temperaturen in Felsen und Erdreich nie über null Grad steigen. Ist das darin enthaltene Wasser seit über zwei Jahren gefroren, spricht man von Permafrost. Oft sind es sogar mehrere hundert Jahre. Früher lag diese Grenze bei rund 2.600 Metern. Mittlerweile ist sie je nach Exposition auf 3.000 bis weit über 4.000 Meter geklettert …
… und warum führt tauender Permafrost zu Bergstürzen?
Das liegt daran, dass Berge nicht nur aus festem Gestein bestehen, sondern auch aus Erde, Sand, Schotter und losen Felsblöcken. Das Eis verbindet diese Masse zu einem kompakten Festkörper. Wenn der ständig gefrorene Anteil zu tauen beginnt, geht dieser Klebstoff verloren, die Hänge werden instabil und es kann zu Felsrutschen kommen.
Muss ich nun also Angst haben, in die Berge wandern zu gehen?
Ich sage Nein. Schwere Unglücke durch Bergrutsche werden sehr selten bleiben. Da muss man zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Außerdem betrifft das Gletscher- und Hochtouren ab einer Höhe von mindestens 2.500 Metern. Durchschnittliche Wander:innen sollten in diesen Gefahrenzonen nicht unterwegs sein. Aber sehr wohl muss ich mich auf zusätzliche Gefahren im kleinen Rahmen einstellen. Besonders an heißen Tagen.
Wie kann ich mich als Bergsteiger vor solchen Gefahren schützen?
Bei der Tourenplanung ist es extrem wichtig, die aktuellen Verhältnisse zu er- und hinterfragen, weil die Bergführerliteratur oft mehrere Jahre alt ist. Vor allem rate ich, die lokale Expertise ernst zu nehmen. Auf den Alpenvereinshütten arbeiten sehr erfahrene Wirtsleute, die genau Auskunft darüber geben können, wo erhöhtes Risiko herrscht. Diese Bereiche sollte man meiden und im Notfall lieber einen Umweg in Kauf nehmen. Ich gebe außerdem mehr acht auf steinschlaggefährdete Passagen. Wenn ich zum Beispiel viel lockeres Gestein in oder am Fuß von Flanken sehe oder lose Felsen am blanken Eis liegen, ist Vorsicht geboten. Gegen Stürze in Gletscherspalten kann ich mich gut schützen, indem ich mich anseile.
Wie genau wird der schmelzende Permafrost beobachtet?
Universitäten und Forschungseinrichtungen beobachten und erforschen den Rückgang des Permafrosts. Außerdem sind sie in der Lage, mit seismischen und akustischen Messungen sowie der Erfassung von Spalten die Bewegung der Berge aufzuzeichnen. So können Entwicklungen ziemlich genau abgebildet werden.
Also lassen sich solche Ereignisse vorhersagen?
Nur bedingt, denn diese Technologie kommt nur dort zum Einsatz, wo zivile Infrastruktur oder sehr stark frequentierte Bergwege bedroht sind. Die ganzen Alpen könnten niemals unter Beobachtung gestellt werden, da das Gebiet viel zu groß wäre.
Das heißt, Bergstürze können auch Infrastruktur treffen?
Ja, Erdrutsche in den Alpen können vereinzelte Gehöfte, Verkehrswege und Siedlungen erreichen. Deswegen gibt es Ämter, die die Aufgabe haben, Naturgefahren im Auge zu behalten und im Ernstfall eine Evakuierung zu veranlassen. So wie im Schweizer Brienz, wo vergangene Woche ein Felsrutsch das Dorf nur knapp verfehlte. Das hatte allerdings nichts mit Permafrost zu tun. Der Berg war dort schon lange in Bewegung und drohte abzurutschen.
Muss man auch darüber nachdenken, Berge zu sperren?
Da muss man die Kirche im Dorf lassen. Es macht keinen Sinn, jetzt zum Beispiel die ganze Silvretta, wo sich das Fluchthorn befindet, zum Krisengebiet zu erklären. Allerdings ist davon auszugehen, dass sich noch einiges an instabilem Material in den Hängen befindet und mit weiteren Felsstürzen gerechnet werden muss. Deswegen kann der Alpenverein, der für die Wege in den Bergen zuständig ist, gemeinsam mit Geolog:innen sowie mit Ortsgemeinden eine Sperrung von einzelnen Pfaden veranlassen, um Schaden zu vermeiden. Aber die Witterung wird dafür sorgen, dass sich das Gelände auch wieder stabilisiert, und dann wird man auch wieder neue Wege finden und anlegen.
Wie gefährdet sind Berghütten?
Für Hütten sehe ich das Risiko nahe bei null. Die Alpenvereinshütten stehen in der Regel auf Anhöhen, wo sie vor Bergstürzen gut geschützt sind, und nicht unterhalb von Hängen. Im Winter werden manchmal Hütten durch Lawinen beschädigt, aber dann sind sie meist auch nicht bewohnt. Mir ist keine Hütte bekannt, die von einem Bergsturz zerstört wurde. Welche Problematik es aber sehr wohl gibt, ist, dass Fundamente von auf Permafrost gebauten Schutzhäusern instabil werden. Dann muss man überprüfen, ob die Hütte bautechnisch verstärkt werden muss.
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