Alltagsrassismus in Tröglitz: Teilen macht reich
Im Kampf gegen Rassismus gab Markus Nierth sein Amt als Bürgermeister in Tröglitz auf. Ein Jahr später denkt er darüber nach, den Ort zu verlassen.
Wie sich die Welt seit letztem Jahr verändert hat. Der Mischlingsrüde gehört zu den liebenswerten Neuerungen. Nierth geht weiter. Von hier oben schweift der Blick wie von selbst in die Ferne. Felder voller Wasser wie Schwämme, Baumwipfel, die Abraumbagger am Horizont, die ihre Ausleger wie Fäuste in den Himmel recken. Die Augen entspannen, in die Brust strömt kalte Luft.
„Von hier oben kann man Leipzig sehen“, sagt Nierth und winkt heran. Irgendwo im Dunst liegt die Messestadt. „Wir haben überlegt, nach Leipzig zu ziehen“, eröffnet Nierth. „Aber in einer Stadt leben?“, er blickt um sich: die Felder, die Stille. „Das kann ich nicht.“
Dass Nierth einmal an Tröglitz zweifeln würde, dem Ort im Süden Sachsen-Anhalts, den er 1999 selbst gewählt hat – wer hätte das gedacht? Knuddel kommt näher, Nierth legt ihn an die Leine und geht zum „Lindenhof“ zurück, den ehemaligen Gasthof mit dem Fachwerk und den blassgrün gestrichenen Wänden, den Nierth wiederaufgebaut hat. Es könnte sein Lebenswerk sein. Doch Markus Nierth trägt sich mit Abschied.
Sechzig Flüchtlinge
Bis vor einem Monat hat die Polizei das Haus der Familie in der Nacht bewacht, erzählt Nierth. Jetzt hat Knuddel übernommen. „Ein Stück weit hab ich die Heimat verloren“, wiederholt Nierth, legt Mantel und Filzhut ab und geht ins Haus. Ein Jahr ist es her, dass Nierth als Bürgermeister von Tröglitz zurückgetreten ist. Das Industriedorf mit seinen 2.800 Einwohnern, dem historischen Ortskern, den Mietshäusern und der Eigenheimsiedlung sollte sechzig Flüchtlinge aufnehmen. Nierth erklärte den besorgten Tröglitzern, dass er keinen Einfluss auf die Verteilung der Flüchtlinge habe, und warb für einen freundlichen Empfang.
Hätte er etwas anders machen können? Markus Nierth lehnt sich im Sofa zurück. Ihm gegenüber sitzt seine Frau Susanna. Sonne fällt jetzt durch die Fenster ins Wohnzimmer mit dem gusseisernen Ofen, dem Holztisch und dem mächtigen Balken an der Decke. Man fühlt sich wie in einer Burg, aber einer behaglichen. Hier sollte vor einem Jahr der „Lichterspaziergang“ enden, den erregte Einwohner und NPD-Sympathisanten organisiert hatten, um als Volkes Stimme dem Bürgermeister die Meinung zu geigen. Es sind freundliche, offene Fenster. Im Geviert hängen Herzen aus Stoff. Man kann gut nach draußen blicken – und von draußen hinein.
Eine Demonstration, angemeldet von einem NPD-Funktionär, im Dämmerlicht, mit Laternen, und drinnen sitzen Nierths mit den Kindern? Markus Nierth bittet den Landrat um Unterstützung. Der Aufzug solle nicht verboten werden, aber bitte eine andere Route nehmen. Vergebens. Nierth tritt zurück.
„Die schlimmsten Momente gab es bei den Fäkalbriefen“, beginnt Susanna Nierth. Sie hat die blonden Haare hochgeknotet, sitzt aufrecht im Korbsessel. War ihr Mann Markus zuvor schon Angriffen ausgesetzt, wird die Familie nach dem Rücktritt Ziel geradezu archaischer Verwünschungen. Sie nehmen noch zu, als Anfang April die vorgesehene Flüchtlingsunterkunft brennt. Nierth wird beschimpft, beleidigt, bedroht – auf Facebook, am Telefon, per Post.
Brief voller Kot
Im Juni brachte der Postbote einen dicken Brief von einem Tanzzirkel, adressiert an die Tanzakademie von Susanna Nierth. Als sie ihn öffnet, sieht sie, dass er voller Kot ist. Susanna Nierth erzählt und wiederholt dabei die Handbewegungen, wie sie den Brief aufreißt – und hält sprachlos inne. Lange ist sie diesen Gestank nicht losgeworden, sagt sie und hält die Hände vor ihr Gesicht. Jetzt ist der Ekel wieder da.
„Das Landeskriminalamt hat super gearbeitet“, sagt Susanna Nierth. Die Beamten haben den Brief untersucht, auch DNA-Proben genommen. Den Absender aber konnten sie nicht ermitteln, nur so viel: Der Brief wurde in der Region aufgegeben. „Beim zweiten Brief war ich noch aufgeregt, als ich die Polizei gerufen habe“, fährt Susanna Nierth fort. Den dritten habe sie ganz fest und ruhig entgegengenommen. Nein, sie ist nicht stolz darauf, winkt sie ab, eher beunruhigt, dass sie so reagiert hat, so abgebrüht. „Es hat sich was verändert.“
Frau Nierth, da ist jemand krank, habe ihr ein Beamter vom LKA gesagt, erzählt sie weiter. Er wollte sie etwas beruhigen. Doch was hilft es, wenn diese „Krankheit“ um sich greift? Von diesem Format war der dritte Brief der letzte. Schluss ist keineswegs. „Wir haben gerade wieder eine nette Karte bekommen“, sagt Markus Nierth. „Du und deine Alte … das Flüchtlingspack … verzieht euch aus Tröglitz … ihr macht das doch nur wegen der Kohle“, liest er laut. Tadellose Rechtschreibung, saubere Handschrift und Sinn fürs Schöne. Die Vorderseite ziert eine barocke Freitreppe mit Blumen in einem sommerlichen Park und trotzdem voller Gift.
Baumelnde Herzchen
„Es verrät viel über den Menschen, wenn Geld so bedeutsam ist“, überlegt Nierth. „Teilen macht reich“, sagt er. Dann bricht es aus ihm heraus: „Die ahnen gar nicht, was es kostet. Diese Hetze, diese Hartherzigkeit, diese Verstümmelung. Sie berauben sich selbst.“ Markus Nierth schüttelt den Kopf. „Ich habe den Auftrag: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Nierth schaut auf. In den Fenstern baumeln die Herzchen.
Wenn man die steinernen Herzen dieser Menschen doch gegen weiche, warme austauschen könnte! Wenn man ganz Tröglitz mit seiner Thälmannstraße und dem Friedensplatz einfach heilen könnte! Markus Nierth, der evangelische Theologe, der in Tübingen studiert hat, hat es versucht. Wie ein Apostel hat er den „Lindenhof“ hier im gottfernen Osten zur Kirche auserkoren. Nierth, der Pfarrerssohn, kam freiwillig in die Region zurück, von wo er einst in den Westen aufgebrochen war.
Irgendwann hat er seine Mission beendet und ist Trauerredner geworden und dann Bürgermeister. Das Amt hat Markus Nierth selbst abgegeben. Der Broterwerb aber sollte ihm genommen werden. Ihr Mann habe keine Aufträge mehr erhalten, berichtet Susanna Nierth. Bei ihr selbst gab es Abmeldungen in der Tanzakademie. Um ein Drittel sei der Umsatz der beiden Freiberufler im vorigen Jahr zurückgegangen. Jetzt gehe es voran.
In der Mitte der Gesellschaft
„Dass das alles einen Preis haben würde, war uns klar“, bekräftigt Susanna Nierth. Die Verluste in Euro und Cent lassen sich halbwegs verkraften. Etwas anderes wiegt schwerer. „Dass alles, was vorher war, nicht mehr zählt.“ Wenn Verleumdung um sich greift. Susanna Nierth wirkt so, als hätte sich die Zusammensetzung der Luft verändert. Dass Hetze, Beleidigungen, Gewalt offen zur Schau getragen werden, dass das keine Nebensache mehr ist, dass das angekommen ist in der Mitte der Gesellschaft. Und dass es zunimmt. Susanna Nierth ist Choreografin, doch es könnte ihr schwindlig werden.
„Die Spaziergänge von Tröglitz – wenn man das mit Heidenau und Clausnitz vergleicht, waren die geradezu sanft.“ Wirklich beruhigend ist der Rückblick von Susanna Nierth jedoch nicht. Und wer sagt denn, dass der „Volkszorn“ nicht bald wieder marschiert? „Auf Knopfdruck sind wir alle wieder da“, hatte einer der Organisatoren im vorigen Jahr gedroht. Was, wenn zu den 22 Flüchtlingen noch weitere hinzukommen? Was, wenn es mehr als die nun vereinbarten vierzig werden? Und was wäre, wenn einer der Flüchtlinge straffällig wird?
Es klingelt. Markus Nierth eilt zum Telefon. Der Boden ist mit Fliesen bedeckt. Wer seit letztem März schon darüber gelaufen ist: Minister, Unterstützer, auch Gegner. Manche haben geredet wie Automaten, andere waren stumm, wieder andere haben geweint. Das Wohnzimmer war vieles: Konferenzraum, Betstube, Pressestelle. Nur einfach das Wohnzimmer einer Familie, das ist es nicht mehr. Kann man hier noch ohne Arg sitzen, essen, musizieren und den Blick durch die Fenster schweifen lassen?
„Ist das Schnee!?“ Es klingt wie ein Aufschrei. Susanna Nierth ist verwirrt. Flockenwirbel vor dem Fenster. Schien nicht eben schon die Frühlingssonne?
„Wir sind nicht verdammt“
Der Städte- und Gemeindebund will eine Gesetzesinitiative anschieben, um ehrenamtliche Bürgermeister besser gegen Angriffe von rechts zu schützen, erzählt Markus Nierth. Ein Fernsehsender bittet um ein Statement.
Das unbeständige Wetter gibt die Gemütslage der Nierths ziemlich gut wieder. „Es wankt“, gesteht Markus Nierth. „Ich habe mich hier zu Hause gefühlt.“ Er sieht sich um. „Wir haben viel Lebenskraft reingesteckt.“ Nierth blickt zu seiner Frau. „Aber wir sind hier nicht verdammt.“ „Es ist kein Trotz. Ich möchte eine Entscheidung von ganzem Herzen“, antwortet sie. Wenn sie gehen, dann freiwillig, bekräftigen beide. So wie sie einst gekommen sind. Hier in diesem Haus wird die Entscheidung fallen. Alle haben in der Familie ein Mitspracherecht, jeder hat eine Stimme, auch die sieben Kinder. Silas, der Jüngste, ebenso wie die, die längst außer Haus wohnen. Wann? Irgendwann in diesem Jahr.
Knuddel schnuppert neugierig über den Hof. Die schlanke Linde in der Mitte wird bald knospen. In der Wohnung dahinter lebt eine Familie aus Afghanistan. Die Nierths sind Paten. Insgesamt sechs Flüchtlingsfamilien leben in Tröglitz, alle in Wohnungen, insgesamt 22 Personen. Tendenz steigend. Drei Frauen sind schwanger. „Tröglitz steht vor der Islamisierung“, hatte Markus Nierth noch gespottet.
Der verkohlte Dachstuhl
Das Haus, das als Flüchtlingsunterkunft vorgesehen war, liegt hinter Bauzäunen. Die Kameras des Landeskriminalamtes sind abgebaut. Es wird weiter ermittelt, heißt es von dort knapp. Der ehemals verkohlte Dachstuhl ist wie eine Wunde mit weißer Folie verschlossen. Auf dem Friedensplatz dahinter haben die Demonstranten gegen die Unterkunft protestiert. Heute findet sich nicht einmal ein Stück Pappe von der NPD. Wahlwerbung ist unnötig.
Propaganda gab es hier schon genug. Hier haben sie lautstark die „Asylbetrüger“ und „die Ratte“ Markus Nierth ausgebuht. Jetzt liegt der Platz verwaist. Die Fenster im Edeka-Markt sind schmutzig, dahinter gähnt es dunkel. Die Kaufhalle hat im September dichtgemacht. Nun gibt es keine Einkaufsmöglichkeit mehr im Ortszentrum. Für viele im letzten Jahr sicher die größte Zäsur.
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