piwik no script img

Alltag in AfghanistanDie Poesie des Mutes

Unser Autor lebt seit langem in Kabul. Inmitten von zerfetzten Leibern besingt er den Mut der Menschen in Afghanistan.

Afghanischer Alltag: „Wir befinden uns alle am Rande des Wahnsinns“ Foto: reuters

Kabul taz | Stellen Sie sich vor, Sie stehen inmitten einer politischen Demonstration in der Hauptstadt Ihres Heimatlandes, der ersten seit vielen Jahren. Stellen Sie sich die dort versammelten Menschen vor: ihre Plakate, ihre Slogans und ihre Forderungen nach ein wenig mehr Leben und Würde, nicht nur für sich selbst, sondern für alle.

Stellen Sie sich vor, wie diese Menschen tief empfundene Leidenschaften – Wut, Schmerz, Liebe, Solidarität – ausdrücken oder vielmehr verkörpern und wie diese Affekte sich gegenseitig verstärken und ein Vibrieren entsteht, das mit Worten nicht zu beschreiben, dafür aber mit der Seele zu spüren ist, groß ist, Poesie ist, Poesie in ihrer wortwörtlichen Bedeutung als das, was vorher nicht existierte. Neue Körper. Neue Seelen. Und in einem viel profaneren, aber zweifellos nicht weniger wichtigem Sinne: neue Möglich­keiten des In-der-Welt-Seins, des Überlebens und des Währens. Leben und währen – lähren. Wir wollen lähren!

Dies ist es, was Tausende von Menschen an jenem Freitag von bedrückender Hitze und überquellender Hoffnung in Kabul, Afghanistan singen. Wir wollen lähren! Wir wollen während leben und lebend währen! Zu viele sind zu jung gestorben! Stellen Sie sich jetzt zwei junge Leute vor, die mitten unter diesen Menschen stehen, die gleichen Losungen rufen, sie mit derselben Inbrunst schreien und plötzlich macht es Boom!

Ich bitte Sie erneut: Stellen Sie sich zwei junge Leute vor, die mitten unter dieser Menschenmasse die gleichen Losungen, mit derselben Inbrunst, schreien und plötzlich macht es Boom! Die zwei jungen Männer, bepackt mit mehreren Kilo Dynamit, haben sich in die Luft gesprengt und zurück bleiben zerstückelte Körper, Seelen und Träume. Da ist keine Poesie mehr, da ist Panik. Rette sich, wer kann. Die Menschen rennen um ihr Leben. Jede und jeder für sich und ohne Mitleid für die anderen. Die Schwächsten sterben zertrampelt.

Oh, ich bitte Sie um Entschuldigung. Ich habe mich geirrt. Stellen Sie sich vor, was wirklich passiert ist. Die beiden jungen Leute sprengen sich in die Luft und zerstückeln Dutzende Menschen. Überall ist Blut. Die Gesänge verwandeln sich in ein Meer von Schreien und Weinen. Viele Menschen rennen um ihr Leben. Aber es gibt auch jene, und es sind nicht wenige, die sich sofort organisieren, um sich um die vielen Verletzten zu kümmern und die Toten zu identifizieren, damit diese wenigstens würdig beerdigt werden können.

Damit sie nicht mehr sterbend leben müssen

Vielleicht fragen Sie, wie das mit dem Identifizieren derjenigen, die soeben zerfetzt wurden, geht? Stellen Sie sich eine Gruppe von etwa 25 Personen vor, Überlebende eines erneuten Selbstmordanschlags, des fünften innerhalb von zwei Wochen, alle im selben Viertel Kabuls. Diese 25 Personen, die soeben erst eine im Nachhinein als zu den barbarischsten des in 40 Jahren ununterbrochenen Krieges gezählten Gräueltaten überlebt haben, nehmen sich jetzt, trotz ihres gewaltigen Schmerzes und Zorns sowie ihres tiefen Wunsches, ebenfalls unter den Toten zu sein, damit sie endlich nicht mehr sterbend leben müssen, des Sammelns und Zusammenfügens der zerfetzen Körper an.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

ist ein deutsch-bolivianischer Theatermacher. Er arbeitet seit 2007 in Afghanistan und ist einer der Mitbegründer der Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO; www.ahrdo.org), einer lokalen NGO und politischen Theaterplattform mit Sitz in Kabul. Er verlor bei Attentaten sehr enge Freunde und Bekannte.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

ist ein deutsch-bolivianischer Theatermacher. Er arbeitet seit 2007 in Afghanistan und ist einer der Mitbegründer der Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO; www.ahrdo.org), einer lokalen NGO und politischen Theaterplattform mit Sitz in Kabul. Er verlor bei Attentaten sehr enge Freunde und Bekannte.

Stellen Sie sich eine junge, etwa zwanzigjährige Frau vor, die das Bein eines Kindes in einer Hand und den Kopf ihrer besten Freundin in der anderen hält. Stellen Sie sich einen alten Mann mit Stock vor, der untröstlich weint, während er einen Leib im Messi-Trikot aufhebt. Einige der Körper lassen sich wieder zusammensetzen, die große Mehrheit hingegen nicht.

Stellen Sie sich den Moment vor, wenn die Verwandten der Opfer am Tatort ankommen und das einzige, was ihnen von den 25 Leuten, die die zerfetzten Körper einsammelten, gegeben werden kann, ein paar Finger, Arme oder Ohren ihrer Geliebten sind. Stellen Sie sich vor, dass viele dieser Menschen, die für ein lebenswerteres Afghanistan ihr Leben gelassen haben, egal wie viel von ihnen noch übrig geblieben ist, niemals von jemandem in Empfang genommen werden, weil die Familienmitglieder weit entfernt auf dem Land leben und erst Tage oder sogar Wochen später von der Ermordung ihrer Angehörigen erfahren.

Absurder Albtraum

Aber damit ist dieser absurde Albtraum noch nicht vorbei. Es müssen noch die Toten beerdigt werden, bevor die Regierung sich ihrer annimmt und sie verschwinden lässt, um die Zahl der offiziellen Opfer zu manipulieren und ihre absolute Unfähigkeit zu vertuschen, auch nur die Grundbedürfnisse der 35 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen Afghanistans zu befriedigen, angefangen mit dem Recht auf Leben sowie der körperlichen und psychischen Unversehrtheit.

Weniger als 24 Stunden bleibt den Überlebenden Zeit, die Toten zu beerdigen. Stellen Sie sich vor, wie innerhalb von wenigen Minuten, mitten in der Nacht und trotz des schweren individuellen und kollektiven Leidens, sich eine Art nachbarschaftliches Notfallkomitee bildet, um die dringendsten Aufgaben zu verteilen und zu erledigen. Dazu gehört auch, dass sie mit den Familien der Opfer sprechen, um zu erörtern, ob sie mit einem „politischen Begräbnis“, soll heißen, einem kollektiven anstatt individuellen Begräbnis, einverstanden wären.

Und die Entscheidung, wo die Toten beerdigt werden sollen, muss ebenfalls getroffen werden, soll heißen, entweder auf einem der unzähligen Nachbarschaftsfriedhöfe oder durch Besetzung, ja Besetzung, eines Ortes von beträchtlichem symbolischen Wert, um nicht zuzulassen, dass die unschuldigen Opfer dieses endlosen Krieges so leicht vergessen werden.

Ein blutiges Bündel

Auch müssen die vielen morda shoye kontaktiert werden, die die grausame Verantwortung haben, die Leichen für die Trauerfeier am folgenden Tag vorzubereiten. Stell dir vor, es würde dir jemand um 22.30 Uhr ein blutiges Bündel überreichen, bestehend aus Körperteilen, die nur wenige Stunden zuvor zu einem 21-jährigen Menschen gehörten, der vielleicht Philosophiestudent oder Vogelverkäufer, Drachenflieger oder Fan des Kolonialsports Kricket war und so simple Träume hatte, wie eines Tages aufzuwachen, ohne Angst haben zu müssen, dass er oder eines seiner Familienmitglieder auf dem Weg zum Bäcker durch das neueste Spielzeug der US-amerikanischen Rüstungsindustrie oder durch einen armen, mit Sicherheit gegen seinen Willen mit Sprengstoff gefüllten Esel sein Leben verliert.

Übrigens möchte ich mich entschuldigen, dass ich einfach angefangen habe, dich zu duzen, aber nachdem ich dir so viele schmerzhafte Dinge erzählt habe und du mir mit so viel Mitgefühl zugehört hast, spüre ich eine gewisse Nähe. Das gibt mir viel Kraft. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie allein man sich manchmal fühlt und wie erdrückend die Trauer ist. Vielen, vielen Dank. Du wirst hier bei uns immer herzlich willkommen sein.

Zurück zur Beerdigung. Es wurde eine Entscheidung zugunsten des politischen Begräbnisses und der Besetzung eines symbolischen Ortes getroffen. Stell dir vor, wie sich am nächsten Tag mehr als hundert Personen, fast ausschließlich Männer, wenige Minuten Luftlinie vom Nationalparlament entfernt, auf einem Hügel, der bis gestern noch als beliebter Ausflugsort für Picknicks fungierte und jetzt in eine Stätte des Widerstandes gegen die anhaltende Kultur des Todes und der Straf­losigkeit in Afghanistan verwandeln wird, versammeln.

Stell dir vor, wie diese Personen, schwer bewaffnet mit Schaufeln und Spitzhacken und geladen mit einer immensen Wut und einem unendlichen Kummer, damit beginnen, mit ihren eigenen Händen, ich wiederhole, mit ihren eigenen Händen, ein bescheidenes Massengrab auszuheben, das groß genug ist, um unter Tränen die Überreste der Körper von Fatima, Abdullah und Tamana in Empfang zu nehmen, ein Grab, welches aber auf ewig zu klein sein wird, um mit gebührender Zärtlichkeit all ihre massakrierten Träume und Wünsche, all ihre ausgelöschten Talente und Intelligenzen, alle ihre ausgerotteten Lächeln und Lebensfreuden aufzunehmen. Gräber sind einfach nicht dazu gemacht worden, um das Lachen eines verkohlten Kindes zu beherbergen. Das Begräbnis endet mit einer in einem Tsunami von Klagegesängen ertrinkenden Litanei. Es bleibt einem die Luft zum Atmen weg. Hören wir zu. Bitte, hören wir zu.

Die Poesie kommt zurück

Danach kehren die Personen zurück nach Hause. Stell dir vor, wie es den weiblichen Familienmitgliedern gegangen sein muss, die, während die Männer gruben, das Zuhause für die fatiha, die Trauerfeier, vorbereitet haben und dabei die ganze Zeit eine Sure des Korans rezitierten, damit ihre Kinder in Frieden ruhen werden. Stell dir ihre erschöpften Körper, die leeren Augen und die zugrunde gerichteten Herzen vor. Ihre absolute Machtlosigkeit. Wir befinden uns alle am Rande des Wahnsinns. Niemand spricht. Es gibt Elegien, die sich nur durch Schweigen und Blicke ausdrücken. Hören wir zu. Hören wir den Frauen zu.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Und dann bekommen wir einen Tee, trinken ihn. Und so unglaublich es klingen mag, beleben sich die Geister allmählich wieder. Träume werden erinnert, Wünsche formuliert. Die Poesie kommt zurück. Es ist eine bescheidene Poesie, eine Poesie des Mutes, verfasst von mehreren Generationen von Afghanen und Afghaninnen, die gezwungen wurden, ein Leben ohne Zukunft zu leben, und trotzdem niemals aufgehört haben, von einer Zukunft mit Leben zu träumen und für diese zu kämpfen. Hören wir zu. Hören wir zu und fühlen gemeinsam mit ihnen.

PS: Die Proteste gehen täglich weiter. Niemand gibt auf. Stell dir vor, dass du dich diesem Kampf für ein Ende des Krieges und für einen Frieden mit Gerechtigkeit und Würde anschließt. Komm. Komm doch vorbei. Wir freuen uns.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Lieber Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn, was für ein berührender und warmherzig-kämperischer Text! Vielen Dank für die Worte, Gefühle und überhaupt das Leben und Wirken am "Randes des Wahnsinns". Ich fühle mich verbunden und schöpfe Energie für die Aufgaben und Kämpfe in diesem Wahnsinn hier. Danke.