Allianzenbildung vor der EU-Wahl: Bruchstellen statt Brücken
Die europäischen Rechtspopulisten haben vor, eine Fraktion im EU-Parlament zu bilden. Gemeinsame Positionen gibt es aber kaum.
Wer der EU zusetzen will, der könnte, zum Beispiel, bei ihrem doppelten Parlamentssitz anfangen. In einer kafkaesken Routine packen alle 751 Abgeordneten einmal im Monat die wichtigsten Akten in große Truhen, die aussehen, als enthielten sie Munition. Maximal 30 Kilo dürfen sie wiegen, wenn die parlamentseigenen Packer anrücken. Diese laden sie in Lkws und fahren die Kisten in das 440 Kilometer südöstlich von Brüssel gelegene Straßburg.
Rund 3.000 ParlamentsmitarbeiterInnen reisen dem Konvoi hinterher. Drei Nächte und vier Tage bleiben sie meist in Straßburg, dann geht es zurück. Rund 290 Tage im Jahr steht der Parlamentssitz in Straßburg leer. Die Umzüge kosten mindestens 109 Millionen Euro im Jahr und verursachen im selben Zeitraum Schätzungen zufolge etwa 20.000 Tonnen CO2. Der einzige Grund für das als „Wanderzirkus“ geschmähte Hin und Her sind französische Befindlichkeiten. Es wirkt wie bestellt für Tiraden gegen „Eurokraten“ und „Brüsseler Eliten“.
Nach letzten Umfragen wird das Potenzial rechter Parteien EU-weit auf etwa 23 Prozent geschätzt – das ergäbe etwa 170 Sitze. EU-Skepsis ist bei allen Programm. Keine der Kampagnen kommt ohne das aggressiv vorgetragene Versprechen aus, den „Bürokratensaustall“ Brüssel richtig auszumisten.
Anfang April sitzen vier Männer im Mailänder Nobelhotel Gallia auf einem Podium. Italiens Innenminister Matteo Salvini, auch Chef der Lega Nord, ist dabei, er hatte vollmundig zu dem Treffen geladen, um ein Bündnis der europäischen Rechtspopulisten vor der Wahl zu verkünden. Doch bei der Pressekonferenz sind neben Salvini nur AfD-Chef Jörg Meuthen und je ein Vertreter der Dänischen Volkspartei und der Partei Die Finnen dabei, sie verkünden die Gründung der Europäischen Allianz der Völker und Nationen (EAPN).
Selbst beim Thema Migration nicht einig
Der französische Rassemblement National und die österreichische FPÖ haben sich der Allianz inzwischen angeschlossen. Doch wie dieses Bündnis nach der Wahl aussehen soll, ist unklar. Und ob es hält, ist noch lange nicht ausgemacht. Und dafür gibt es Gründe. Die AfD möchte das EU-Parlament komplett abschaffen. Die meisten anderen Rechtsparteien haben sich auf den doppelten Parlamentssitz eingeschossen. Doch mit dem französischen Rassemblement National ist das nicht zu machen.
Straßburg den Rücken zu kehren wäre ein Schritt zu einem „supranationalen Europa mit einer einzigen Hauptstadt in Brüssel, einer Stadt der Lobbys und der nicht gewählten, allmächtigen Kommission“, erklärt die Partei.
Europa der Nationen und der Freiheit Hier sitzen Rassemblement National, Lega und FPÖ, die niederländische PVV und der Vlaams Belang aus Belgien. Auch der ehemalige AfD-Mann Marcus Pretzell ist Teil der ENF.
Europäische Konservative und Reformer Dominiert wird diese Fraktion von der polnischen PiS und den britischen Tories, außerdem sind die rechten Parteien aus Dänemark, Schweden und Finnland dabei. AfD-Gründer Bernd Lucke gehört ebenfalls zur ECR.
Europa der Freiheit und der direkten Demokratie Neben der britischen Ukip und der 5-Sterne-Bewegung aus Italien gehört auch der einzige verbliebene Abgeordnete der AfD im EU-Parlament, Parteichef Jörg Meuthen, zu dieser Fraktion.
Europäische Volkspartei Fidesz aus Ungarn wurde im März zwar bis auf Weiteres suspendiert, ist aber offiziell noch Mitglied. (taz)
Das Beispiel zeigt, wie schwer es die Nationalisten haben, sich auf eine Linie zu einigen. Durch alle Politikfelder, selbst bei der Migration, sind die objektiven Interessengegensätze riesig. Die Neigung, diese Gegensätze demonstrativ auszublenden, ist indes hoch. Bislang waren die rechten Parteien auf vier Fraktionen aufgeteilt. Gelänge es, künftig einen Block zu bilden, winken mehr Macht und Einfluss. Also wird Einigkeit beschworen.
Am vergangenen Freitag lädt AfD-Spitzenkandidat Jörg Meuthen den Fraktionschef der „eng befreundeten“ FPÖ, Jörg Gudenus, zu einer Veranstaltung ins baden-württembergische Pforzheim. Bei der Landtagswahl schaffte es die AfD hier aus dem Stand, einen Direktkandidaten nach Stuttgart zu schicken.
Die neue, gemeinsame EAPN-Fraktion im EU-Parlament werde „Normalität“ herstellen, betont Gudemus. „Wir wollen, dass Völker weiter bestehen und der Kontinent nicht islamistisch wird.“ Am Tag davor fliegen Ungarns Präsident Viktor Orbán und der Lega-Chef Salvini gemeinsam per Hubschrauber an die ungarisch-serbische Grenze.
Die EU, eine Umverteilungsmaschine?
Sie steigen auf einen Wachturm und halten feldherrenhaft per Fernglas nach Menschen Ausschau, die möglicherweise die Grenze illegal überschreiten. „Wenn die Linken gewinnen, wird Europa ein islamisches Kalifat“, erklärt Salvini danach. Und Orbán bekräftigt, deshalb wolle man die Brüsseler Führung entmachten. Doch viel weiter als solche Sprüche geht der kleinste gemeinsame Nenner der Rechtspopulisten kaum.
Das fängt beim Geld an. Die EU ist eine Umverteilungsmaschine. 17 der 28 EU-Staaten profitieren finanziell davon. Die besonders EU-kritisch regierten Länder Ungarn und Polen etwa bekamen 2017 zusammen fast 12 Milliarden Euro mehr aus Brüssel, als sie eingezahlt haben.
Geht es etwa nach der FPÖ, ist damit Schluss: Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte der einzelnen Volkswirtschaften versuche die EU durch indirekte Ausgleichszahlungen wettzumachen, heißt es in ihrem „Handbuch freiheitlicher Politik“. Diese seien „abzulehnen“.
Auch die AfD beklagt, die EU versuche, durch Umverteilung gleichwertige Wirtschaftsbedingungen herzustellen. „Dieses Ziel hat sich als unerreichbar herausgestellt.“ Die mit im Schnitt 65 Milliarden Euro jährlich ausgestatteten sogenannten Kohäsionsfonds, aus denen etwa der Schienenausbau oder umweltfreundliche Energieprojekte subventioniert werden, will sie ersatzlos streichen.
Die rechten Parteien in den von den Fonds begünstigten Ländern wie Bulgarien, Estland, Griechenland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik dürften das kaum mittragen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Euro. Die AfD beklagt, die Europäische Zentralbank (EZB) pumpe aus den reichen EU-Staaten „jeden Tag“ Milliardensummen an notleidende Staaten, etwa durch zu billige Kredite – nach Meinung der AfD ist das „illegal“. Tatsächlich profitieren alle Staaten von den EZB-Transfers, deutsche Banken ganz besonders. Außerdem, so behauptet die AfD, bereite die EZB die „schleichende Abschaffung“ des Bargelds vor. Die AfD will deshalb die „Transferunion“ aufkündigen und die „nationale Währung wiedereinführen“.
„Schluss mit dem Euro“
Im Europawahl-Programm des Rassemblement National steht, dass der „Euro, wie er heute funktioniert, eindeutig den Interessen Deutschlands auf Kosten der meisten anderen Länder der Eurozone dient“. Analysten aber haben festgestellt, dass die „Euroxit“-Drohungen Le Pen im Wahlkampf 2017 geschadet haben. Den Ausstieg aus dem Euro fordert ihre Partei deshalb nicht mehr.
Auch die FPÖ will nur noch die „Fehlinterpretation“ des Euro durch die EZB beenden – die südeuropäischen Länder dürften keine billigen Kredite der EZB mehr bekommen. Tatsächlich hat die EZB im Euroraum die Zinsen gedrückt – worauf Krisenländer wie Italien unbedingt angewiesen sind.
Italiens Innenminister Salvini hat lange davon gesprochen, dass er den Euro loswerden will. Doch am Tag der Regierungsübernahme der Lega wurde die „Basta Euro“-Parole – „Schluss mit dem Euro“ – an der Parteizentrale übermalt. Nachdem er sich im Streit mit der EU-Kommission durchgesetzt hat und das Land nun satte 2,4 Prozent des Haushalts an neuen Schulden aufnehmen durfte, ist von einem Euro-Ausstieg Italiens erst recht nichts mehr zu hören.
Denn der würde die Schulden für Italien völlig unkalkulierbar machen – und Salvinis Regierung würde wohl nicht nur für ihre Sozialprogramme das Geld ausgehen.
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, der gemeinsam mit der FPÖ regiert, war während des Haushaltsstreits EU-Ratsvorsitzender. Er habe für Italiens Ausgabepläne „kein Verständnis“, erklärte er damals. „Wir werden sicherlich nicht für die Schulden und populistischen Wahlversprechen anderer bezahlen.“ Italien gefährde sich selbst und andere, die EU sei „nicht gewillt“, dieses Risiko zu übernehmen. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel twitterte schlicht: „Die spinnen, die Römer!“
Weit näher als in Finanzfragen stehen sich Europas Rechte in Sachen Migration, sollte man meinen. Durch die Bank warnen sie in ihren Wahlkämpfen vor einer angeblich drohenden Invasion. Lega, FPÖ, Rassemblement National, AfD und fast alle anderen rechten Parteien wollen, wenn überhaupt, nur wenige ausgewählte Fachkräfte nach Europa lassen.
AfD will alle Grenzen „sofort schließen“
In Polen sieht man das anders. Hier fehlen Hunderttausende Arbeitskräfte, im Jahr 2030 könnten es nach verschiedenen Studien rund vier Millionen sein. Dabei hat die rechtspopulistische PiS-Regierung allein 2016 insgesamt 586.000 erste Aufenthaltsgenehmigungen an BürgerInnen von Nicht-EU-Staaten erteilt – mehr als jeder andere EU-Mitgliedstaat, außer Großbritannien. Die meisten Visa gingen an UkrainerInnen, rund eine Million befinden sich im Land.
Doch weil diese nun oft nach Westeuropa weiterziehen, hat das Arbeitsministerium in Warschau begonnen, ArbeiterInnen von den Philippinen anzuwerben. Der stellvertretende Arbeitsminister Stanisław Szwed verwies auf die „kulturelle Nähe“ beider Länder – „insbesondere durch die katholische Konfession“. Auch mit Vietnam und Nepal sind Anwerbeabkommen in Arbeit.
Einen ganz ähnlichen Dissens gibt es in der Frage, wie mit Flüchtlingen umgegangen werden soll. Die AfD will alle Grenzen „sofort schließen“. Sie lehnt jede gemeinsame EU-Asylpolitik ab und pocht auf nationale Souveränität in Migrationsfragen. Das sehen fast alle anderen Rechtsparteien genauso. Brüssel soll keine Umsiedlung von Asylbewerbern innerhalb der Europäischen Union anordnen dürfen.
Die rechten Regierungen der Slowakei und Ungarns haben sogar gegen die einmalige Umverteilung der Flüchtlinge aus dem Jahr 2015 beim Europäischen Gerichtshof geklagt. Sich durch ein reformiertes Dublin-System womöglich Flüchtlinge von Brüssel zuweisen zu lassen lehnen sie ab. Besonders die Visegrád-Gruppe ist in dieser Frage kompromisslos.
Damit liegen fast alle Rechtsparteien der EU mit Italien über Kreuz. Das Land will, das in dem Land ankommende Flüchtlinge per Umverteilungsmechanismus abgenommen werden, Salvini hat sich davon nie distanziert. Er sehe nicht, was am geltenden Dublin-System europäisch sei, sagte Salvini kurz nach seiner Wahl. „Wenn jemand in Europa denkt, dass Italien weiter ein Flüchtlingslager sein muss, irrt er sich. Italien will nur den Italienern helfen.“ Die gemeinsame Asylpolitik der EU, die die Kommission will, ist wegen dieses Gegensatzes im Rat blockiert.
Verhältnis zu Russland strittig
Als Salvini und Meuthen Anfang April in Mailand ihre Allianz EAPN vorstellten, halfen sich die beiden mit der Behauptung, dass niemand mehr nach Europa kommen werde, „wenn sich erst mal herumgesprochen hat, dass es keinen Weg mehr hinein gibt“. Entsprechend habe sich dann auch das Umverteilungsproblem erledigt. Tatsächlich ist die Vorstellung, die Grenzen komplett schließen zu können, eine Illusion.
Insgesamt ist unklar, wie Europa aussehen sollte, wenn es nach den Rechten geht. Die Formel, auf die sich alle einigen, ist das „Europa der Nationen“. Aber was das genau heißt, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Idee einer europäischen Verteidigungsunion etwa, wie sie Deutschland und Frankreich seit einiger Zeit mit Nachdruck verfolgen, fand schon früh bei der ungarischen Fidesz Anklang. Auch die polnische PiS kann sich damit unter gewissen Vorbehalten anfreunden.
AfD, FPÖ, RN und die italienische Lega lehnen die Schaffung einer europäischen Armee hingegen ab. Für die Lega, die PiS und die Fidesz ist auch klar, dass ihre Länder nicht aus der EU austreten sollen. Auch die Französin Le Pen will Frankreich in einer „reformierten“ EU belassen. Die AfD hingegen hat den „Austritt als letzte Option“ im Wahlprogramm fixiert.
Strittig ist auch das Verhältnis zu Russland. AfD und FPÖ etwa wollen die wegen der Annexion der Krim verhängten EU-Sanktionen aufheben lassen. Ihre Vertreter reisen auf die Krim oder nach Russland, reden im Staats-TV über Freundschaft mit Russland oder geben sich als Beobachter für dubiose Wahlen her. Jüngst zeigten geleakte Mails, aus denen der Spiegel berichtete, wie viel Einfluss Moskau auf AfD-Abgeordnete zu haben glaubt.
Der Jungparlamentarier Markus Frohnmaier könne ein „unter unserer absoluten Kontrolle stehender Abgeordneter“ werden, hieß es dort. Die FPÖ hat 2016 ein Partnerschaftsabkommen mit Putins Partei Einiges Russland unterzeichnet, ein ähnliches Abkommen hat auch die Lega. Eine enge Verbindung zu Putin pflegt auch Ungarns Premier Viktor Orbán: Die beiden treffen sich regelmäßig – und haben viel zu besprechen.
Russland liefert Gas, Erdöl und nukleare Brennelemente nach Ungarn. Für Russland ist Ungarn zudem ein wichtiger Partner im Kampf gegen die Nato-Integration der Ukraine. Das Rassemblement National schließlich hat sich vor der letzten EU-Wahl neun Millionen Euro in Russland geliehen.
Oft ist von Heimat die Rede
Diese Phalanx der Putin-Freunde gefällt der polnischen PiS überhaupt nicht. Sie unterstützt die Sanktionen des Westens gegen Russland. Aus historischen Gründen und aufgrund der geopolitischen Lage wird Russland in Polen sowie im Baltikum mit Argwohn betrachtet. Gerade seit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine sind die Ängste groß vor einer russischen Aggression. Die PiS schafft es, diese für sich zu nutzen.
Gleichzeitig stellt sie sich als Anwalt der kleinen Leute dar. Sie hat ein Kindergeld eingeführt, das Renteneintrittsalter gesenkt und ein Wohnungsbauprogramm gestartet – und dadurch große Unterstützung bekommen. Auch andere setzen auf Sozialpolitik von rechts: In Italien hat die Regierung mit Lega-Beteiligung eine Grundsicherung für Arbeitslose einegführt. Das Rassemblement National in Frankreich gibt sich teils wie eine linke Partei – sie fordert einen höheren Mindestlohn, will die Finanzmärkte regulieren und Steuern für Reiche erhöhen.
Die Idee Anlässlich der EU-Wahl im Mai hat die taz mit sechs anderen europäischen Medien den Rechercheverbund Europe’s Far Right gegründet. Wir wollen wissen: Wie stellt sich Europas Rechte auf? Mit dabei sind neben der taz Libération (Paris), Falter (Wien), Gazeta Wyborcza (Warschau), HVG (Budapest), Internazionale (Rom) und WOZ (Zürich).
Das Geld Die Recherchen werden gefördert durch das Kartographen-Stipendium der Stiftung Mercator, das „Reporters in the Field“-Stipendium der Bosch Stiftung, durch die Otto Brenner Stiftung und die taz Panter Stiftung.
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Alle Texte: taz.de/efr
Auch Viktor Orbán hat sozialpolitische Maßnahmen beschlossen. Doch es gilt: Nur wer so lebt, wie die Regierung will, profitiert von den Maßnahmen. Wer Sozialleistungen erhält, kann zur Arbeit gezwungen werden. Und mit staatlichen Leistungen versucht die Fidesz, Frauen zu motivieren, möglichst viele Kinder zu bekommen.
Andere Rechtsparteien machen neoliberale Politik, auch wenn sie sich selbst anders darstellen. Die FPÖ etwa hat den 12-Stunden-Tag eingeführt, obwohl dagegen Hunderttausende demonstriert haben. Die als marktradikale Partei gegründete AfD ist heute in der Wirtschafts- und Sozialpolitik tief gespalten: Die einen, wie AfD-Chef Meuthen und Fraktionschefin Weidel, finden den neoliberalen Kurs der FPÖ richtig und lehnen die Linie des Rassemblement National als quasi-sozialistisch ab.
Gleichzeitig gibt es vor allem in Ostdeutschland eine starke Strömung, die die AfD als Partei der ArbeitnehmerInnen aufstellen will. Weil der Riss in der Sozial- und Wirtschaftspolitik oft mitten durch die Parteien geht, werden die Rechtspopulisten große Schwierigkeiten haben zu bestimmen, was für ein Europa sie wollen: ein neoliberales – oder eines mit völkischer Sozialpolitik.
„Nur weil wir eine gemeinsame Fraktion bilden, verschmelzen die Parteien ja nicht. Deshalb gibt es Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede,“ sagt Meuthen, wenn man ihn zu den Widersprüchen im rechten Lager befragt.
Dort ist oft von Heimat die Rede, von Vaterländern und angestammten Grenzen. Was gern übersehen wird, ist, dass diese Grenzen oft gar nicht so angestammt sind. Südtirol ist so ein Fall. Im September kam heraus, dass eine Kommission der ÖVP-FPÖ-Regierung in Wien an einem Gesetzestext arbeitet, nach dem die rund 70 Prozent der deutschsprachigen Bewohner Südtirols die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten können sollen.
Eine historische Wunde
„Das ist im Regierungsprogramm festgeschrieben“, bekräftigte die FPÖ-Außenministerin Karin Kneissl am Montag. Rom nannte den Plan einen „feindseligen Akt“ mit „unruhestiftender Wirkung“. Österreich musste Südtirol nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1918 gegen seinen Willen an Italien abtreten.
Ähnliches Konfliktpotenzial bergen die ungarischen Grenzen. 1920 verlor Ungarn mit dem Friedensvertrag von Trianon zwei Drittel seines damaligen Territoriums an Österreich, die Tschechoslowakei, Rumänien und das SHS-Königreich, das spätere Jugoslawien.
Diese historische Wunde instrumentalisiert Premierminister Orbán mit Vorliebe, so führte er etwa einen neuen Feiertag ein: Seit 2010 gedenken die Ungarn nun am 4. Juni, dem „Tag des nationalen Zusammenhalts“, des Unheils, das der Vertrag von Trianon ihnen brachte. Dass Orbán zudem etwa 2,5 Millionen Auslandsungarn, die als Minderheit in den Nachbarstaaten leben, Doppelstaatsbürgerschaft und Wahlrecht geschenkt hat, kam bei den Nachbarn schlecht an.
Orbán ist nicht der Einzige, der alte Fronten aufreißt: Die FPÖ will die Beneš-Dekrete aufheben, und dafür „alle in Betracht kommenden rechtlichen Mittel“ ergreifen. Die Tschechische Republik und Slowenien sollen enteignete Güter von „Sudetendeutschen, Deutsch-Untersteirern und Mießtalern restituieren“ – was Nationalisten in Tschechien wütend zurückweisen. Die polnische Regierungsartei PiS will, dass Deutschland weitere Kriegsreparationen zahlt.
Polens Präsident Andrzej Duda sagte, dies sei „kein erledigtes Thema“. Ein Parlamentsausschuss, den die PiS eingesetzt hat, bezifferte die Forderung auf 690 Milliarden. Die AfD lehnt dies strikt ab – und stimmte 2017 auch gegen ein Denkmal für die polnischen Opfer des Nationalsozialismus.
„Wie erbärmlich ist das, diese Forderungen nach Reparationszahlungen an Griechenland?“, fragte bei dem Treffen in Pforzheim AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. „Wir zahlen und zahlen und haben am Ende sogar noch den Spott und Hass unsrer Nachbarn.“
Mitarbeit: Benno Stieber
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