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Architekt über Ideen für die Zukunft„Was wir als Realität bezeichnen, ist nur ein Vorschlag“

Pierre-Christophe Gam sammelt als Künstler Träume. Warum und wie aus Träumen ein anderes Zusammenleben gedacht werden kann, erzählt er im Gespräch.

Ein Traumfänger in Athen: Pierre-Christophe Gams Video- und Rauminstalla­tion „The Sanctuary of Dreams“, 2025 Foto: Pierre-Christophe Gam
Astrid Kaminski
Interview von Astrid Kaminski

taz: Pierre-Christophe Gam, Sie erschaffen Räume für Träume, beziehungsweise „Dream-Tanks“. Wie kam es, dass Sie sich als studierter Architekt auf Träume spezialisierten?

Pierre-Christophe Gam: Mich faszinierte die Entdeckung, dass Kindheitserinnerungen stark an räumliche Komponenten gebunden sind. Architektur konstruiert also nicht nur den Raum unserer sozialen Interaktion, sondern auch unserer biografischen Orientierung. Nun bestehen zwei Grundtendenzen, um Raum zu gestalten: Entweder so, dass er trennt, oder so, dass er Austausch und Zusammenkommen ermöglicht.

In Bezug auf Letzteres habe ich mich mit den zentralen Gemeinschaftsbauten in westafrikanischen Orten beschäftigt. So bin ich auf den Toguna der Dogon im heutigen Mali gestoßen. Er besteht aus einer niedrigen Steinarchitektur mit einem Dach aus sehr dicken Pflanzenmateriallagen. Es handelt sich um einen Raum, der eine Verbindung zwischen dem Sichtbaren mit dem Unsichtbaren ermöglichen soll.

taz: Und somit einen Eintritt in das Reich der Träume und der Ideen?

Gam: Im Griechischen würde man vielleicht sagen: das Reich der Musen. Die Welt der Erscheinungen, die einerseits unumstrittener Bestandteil des Lebens sind, die wir sozusagen permanent downloaden, denen wir uns aber nur annähern können, weil sie nicht vollständig kontrollierbar und begreifbar sind.

Bild: Guy Kouekam
Im Interview: Pierre-Christophe Gam

Jahrgang 1983, hat in Paris an der École Nationale Supérieure Architektur studiert. Er arbeitet heute als Konzeptkünstler an der Schnittstelle von Technologie und Kunst und verortet sich in der Tradition der westafrikanischen Griots, der Historiker einer oralen Kultur. Seit 2019 entwickelt Gam „Dream-Tanks“, öffentliche Räume für Träume. In diesem Sommer etwa stellte er in Athen einen „Sanctuary for Dreams“ im größten Park der Stadt vor. Zusätzlich stellt Gam einen frei zugänglichen Raum im Metaverse bereit: www.togunaworld.com.

taz: In Athen habe ich einen Workshop in einem Ihrer zeitgenössischen Toguna-Räume besucht. Wir haben dort nicht zum Selbstzweck geträumt, sondern für die Zukunft des Planeten. Was treibt Sie an, die Dream-Tanks zu entwickeln?

Gam: Seit 2019 habe ich mich intensiv mit zwei Fragen auseinandergesetzt: Was ist Realität? Und wie kann Technologie benutzt werden, um die Zukunft zu gestalten? Dabei fielen mir ideologische Richtungen auf, die inzwischen sehr viel deutlicher in Erscheinung getreten sind: die des „Dark Enlightenment“ und des Technofaschismus – also jene Bewegungen, mit denen Donald Trump oder Elon Musk und Peter Thiel verbunden werden können.

In Bezug auf die Zukunft entstehen in diesem Umfeld Perspektiven, die man im Kern als Eugenik bezeichnen könnte. Diese Ideologien haben sehr viel Terrain gewonnen, ohne dass sie von einer umfassenden öffentlichen Debatte begleitet wurden. Aus dieser Situation erwuchs für mich die Frage, wie sich eigentlich ein Forum für die Gestaltung der Zukunft konstruieren ließe.

taz: Und was ist Realität?

Gam: Eine Folge von praktisch willkürlichen Vorstellungen, die manifest werden. Wir Menschen haben Gesellschaften und Kulturen entwickelt, die die Früchte unserer Imagination sind. Darunter gibt es viele Dinge, die geschaffen wurden, um Systeme funktionieren zu lassen. Es scheint uns heute oft so, als seien sie alternativlos. Eine kanonische Ausbildung ist ein Beispiel, oder die Technik des Konsensus, zu der wir erzogen werden. Dabei handelt es sich bei allem, was wir als Realität bezeichnen, um Vorschläge.

taz: Es kann auch ein Wert darin liegen, dass Funktionierendes weiterentwickelt wird.

Gam: Ganz klar! Aber nicht als letztgültige Normen. Wenn wir politische Systeme betrachten, wird das besonders deutlich. Vieles, was den Menschen auferlegt wurde, konnte sich nicht aus dem Grund durchsetzen, dass es besonders gut oder wahr wäre. Darum ist es eigentlich umso irrealer, dass unsere Gesellschaften derzeit den modernen Kapitalismus – Wachstum, BIP, Konsum etc. – als den einzigen Weg betrachten, auf der Welt zu existieren. Aber warum muss es so sein, dass unser Wert als Individuum dadurch bestimmt wird, inwieweit wir in der Lage sind, industriell hergestellte Produkte zu erwerben?

Welchen Sinn macht es, dass ein Ballon durchs Weltall treibt, auf dem es Wesen gibt, die, im besten Fall, von neun bis fünf arbeiten? Um in die Zukunft zu träumen, müssen wir mental zunächst aus unserem Gefangensein in einer einzigen bestimmenden Realität ausbrechen.

taz: Nachdem wir in Ihrem Workshop in das Konzept von Realität als Möglichkeitsraum eingetaucht sind, haben wir uns fünf Fragen gewidmet: Wie wollen wir in der Zukunft arbeiten, lieben, beten, spielen und essen? Die Fragen wiederum verweisen auf fünf Säulen der Ifa-Tradition. Worum handelt es sich da?

Gam: In erster Linie war ich interessiert an Systemen, die Realitäten jenseits von Kapitalismus abbilden und die Verbindung von Menschen und nichtmenschlicher Natur betonen. Ifa ist gleichzeitig eine Wissenschaft, eine Philosophie und eine spirituelle Tradition. Sie ist unter den Yoruba, die heute in Nigeria, Benin und Togo leben, verbreitet, sowie auch in vielen afrikanischen Diasporakulturen. Elemente daraus sind auch in sehr vielen anderen weltanschaulichen Traditionen zu finden.

Bilderschmuck im „Sanctuary of Dreams“ von Pierre-Christophe Gam Foto: Pierre-Christophe Gam

Die Realität besteht, laut Ifa, aus dem, was wir Menschen in einem kokreativen Prozess mit der Natur erwirken. Der menschliche Input wird dabei auf Grundlage von fünf Komponenten – ich vereinfache – bestimmt: Körper, Verstand, Geist, Herz und Seele. Diese fünf Tore zur Realität verknüpfe ich wiederum mit den fünf zentralen Fragen, die Sie genannt haben.

taz: Warum ist es für Sie wichtig, an vorkoloniale Lehren von der Entstehung der Welt anzuknüpfen?

Gam: Als eine Person afrikanischer Herkunft bin ich daran interessiert, Konzepte und Philosophien, deren Existenz nie als solche anerkannt, von anderen Narrativen als naiv abgestempelt oder schlicht übersehen wurden, als Akt der Dekolonisierung verfügbar zu machen.

taz: Die demografische Prognose ist, dass Afrika innerhalb des nächsten Jahrhunderts der bevölkerungsreichste Kontinent der Erde wird, mit über 40 Prozent der Weltbevölkerung. Wie wird Afrika mit seiner zentralen Rolle für die Zukunft umgehen?

Gam: Die Frage wird sein, was bei dieser Transformation zentral steht: das Trauma der Vergangenheit, die Fortsetzung kolonialer Logiken wie im Neokolonialismus, oder wird der Kontinent sich neu erfinden können? Um etwas Neues zu schaffen, muss man es sich zunächst vorstellen können. Nun ist die Situation aber, generalisierend ausgedrückt, immer noch so, dass die Art, wie Afri­ka­ne­r:in­nen sich selbst sehen, korrumpiert ist durch Bilder wie Armut, Abhängigkeit von Hilfe, Korruption … Dadurch, dass ich eine vorkoloniale Tradition hervorhebe, möchte ich dazu ermutigen, einen optimistischen Ausgangspunkt für den Blick in die Zukunft zu entwickeln.

taz: Welche Welt entsteht durch Ihr Traumprojekt?

Gam: Interessant ist, dass sich bei aller Diversität unserer Existenzen nur die Nuancen der Träume voneinander unterscheiden, sie sich im Kern jedoch ähneln. Die Auswertung von mehr als 12.000 Traumprotokollen ist aufwendig, ich kann daher nur verkürzen, wenn ich einige Aspekte herausgreife: Der wichtigste ist der Wunsch nach kleinen, im Kern autarken Gemeinschaften. Was sich außerdem abzeichnet, ist, dass wir eine andere Währung brauchen. Nicht Geld, sondern Zeit könnte eine Währung sein.

Auch die Entfaltung der individuellen Kreativität ist ein wiederkehrendes Thema sowie die Befähigung zu einem selbstbestimmten Umgang mit Technologie. Dazu gehören, um einmal konkrete Beispiele zu nennen, lokale Server, die aus nachhaltigen Energien gespeist werden, sowie Programmieren als Unterrichtsangebot in Schulen wie heute Mandarin oder Englisch. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Diversität. Nicht nur kulturelle sondern auch persönliche Diversität. Das heißt auch, dass es nicht nur Gemeinschaftsorte geben muss, sondern auch solche, in die wir uns zurückziehen können. Es soll keinen Druck von der Gemeinschaft oder Gemeinschaftszwang geben.

taz: Gibt es auch Leute in Ihren Workshops, die zum Beispiel von rassistischen Weltordnungen oder individuellem Reichtum träumen?

Gam: Bislang hat dies niemand getan. Ich denke, der Hauptgrund hierfür besteht in der Tatsache, dass es zunächst darum geht, sich mit sich selbst zu verbinden, und sich nicht aus einer Reaktion heraus zu verhalten – auf Mangel oder Frust, zum Beispiel. Wenn man jemanden fragt: Wie möchtest du dich in deiner idealen Zukunft fühlen, wenn es nichts zu verteidigen und nichts zu erklären gibt, dann verändern sich die Sichtweisen.

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