: Alles in Margarine?
Die Hälfte der Deutschen hat angeblich zu hohe Cholesterinwerte. Medikamente dagegen verkaufen sich von selbst, obwohl ihr Nutzen zu Recht umstritten ist
Der Skandal um den Fettsenker „Lipobay“ geht den Deutschen ans Gemüt. Schließlich sind wir wie keine andere Nation um unser Herz besorgt. Zwar treten in Großbritannien und den Vereinigten Staaten Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems vergleichbar häufig auf wie hierzulande – doch über deutsche Apothekentresen geht die mehrfache Menge an Medikamenten zu ihrer Vorbeugung und Behandlung. Auch in der Hierarchie der medizinischen Disziplinen wird die Vorliebe der Deutschen für den pumpenden Hohlmuskel deutlich: Während in Frankreich nicht von ungefähr Leberspezialisten das höchste Ansehen genießen, gelten in Deutschland noch immer Kardiologen und Herzchirurgen als Krone der Heilkunde.
Herz, was willst du mehr! Schließlich hat sich auch das Publikum nach Jahren der Aufklärung bereitwillig die Lehre von der Herzgesundheit zu eigen gemacht – wehret den Anfängen der Gefäßverkalkung! Zwar ist der Zusammenhang zwischen Blutfettspiegel und Herzinfarkt seit 1948 bekannt. Doch zunächst mussten wir nach tausendjährigem Darben ja wieder richtig satt werden. Spätestens in den 70er-Jahren wurde dann nach Wirtschaftswunderjahren mit üppigen Fleischspeisen und schweren Saucen das Cholesterin auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit als prominentester unter inzwischen mehr als zweihundert Risikofaktoren im Kampf gegen den Herztod ausgemacht. Die Entscheidung zwischen Butter oder Margarine wurde bald zur Schicksalsfrage. Wir holten Teile des Chemieunterrichts nach und interessierten uns plötzlich für gesättigte und ungesättigte Fettsäuren. Dieses kleine Einmaleins aus der Fettecke begleitete uns ebenso wie die mühsam erlernte Unterscheidung zwischen dem „guten“ (HDL) und dem „bösen“ (LDL) Cholesterin.
Der Skandal um den Fettsenker „Lipobay“ hat uns an die noch nicht allzu weit zurückliegenden Zeiten erinnert, als jeder Routinebesuch beim Hausarzt mit der bangen Frage nach dem Blutfettspiegel begann. Der Mythos Cholesterin hatte sich in unseren Köpfen festgesetzt. Das für Hormonproduktion und Zellstoffwechsel lebenswichtige Fettmolekül taugte als idealer Indikator, um persönliche Verfehlungen und zivilisatorische Exzesse zu bemessen. Übergewicht und Bewegungsmangel ließen sich ebenso mit der Cholesterinkonzentration in Verbindung bringen wie ballaststoffarme Ernährung und Alkoholkonsum. Der Bösewicht war identifiziert – darüber wurde fast vergessen, dass Cholesterin eine körpereigene Substanz ist, ohne die etliche Stoffwechselvorgänge nicht funktionieren.
Gegen die wie ein Damoklesschwert drohende Gefäßverkalkung wurden alsbald probate Mittel gefunden. Apotheker baten vorsorglich zum Cholesterin-Schnelltest, und mit der Lebensmittelaufschrift „cholesterinfrei“ sollte den Konsumenten der Ablass jedweder Diätsünden suggeriert werden. Kaum ein Nahrungsmittel kam noch ohne den Hinweis in die Regale, dass der Störenfried aus der Fettecke deutlich reduziert sei. Aber nicht nur auf Käse, Wurst und Eierspeisen prangte das vermeintlich herzschonende Zertifikat. Sondern selbst Obst und Gemüse, die von Natur aus cholesterinarm sind, zierte im internationalen Übereifer das Gütesiegel „cholesterol-free“.
Mit der Gewöhnung an den fetthaltigen Krankmacher in unserem Körper und unserem Blut änderte sich auch die Einschätzung der Folgen. Bis in die 80er-Jahre war der Herzinfarkt noch eine Erkrankung, von der man – sozial hoch geachtet – durch ein Übermaß bürgerlicher Tugenden („Managerkrankheit“) oder eben als Strafe für fehlende Selbstdisziplin („Wohlstandskrankheit“) dahingerafft wurde. Mit dem Hedonismus der 80er-Jahre kam jedoch die Erkenntnis, dass der mündige Mitbürger selbst etwas für sein Herz tun kann – und folglich auch selbst dafür Verantwortung trägt, wenn die Arterien vorzeitig dichtmachen. Auf die Joggingwelle folgte die Entdeckung neuer „kardioprotektiver“ Sportarten wie Walking, Spinning und Aerobic. Ein ganzes Volk begann, sein Fett wegzuschmelzen. Dem äußeren Ideal des Waschbrettbauchs entsprach die Vorstellung entsprechender innerer Werte: niedrige Cholesterinspiegel und dazu Koronarien glatt wie bei einem Säugling.
Dann wurden die Ernährungsgewohnheiten der Mittelmeerländer entdeckt – man speiste provenzalisch und entdeckte die herzerfrischenden und -schonenden Wirkungen gut gelagerter Rotweine. Die Lebenslust der Toskana-Fraktion und die protestantische Ethik schuldgeplagter Diätsünder gingen auf der Suche nach dem idealen Cholesterinspiegel erstaunliche Koalitionen ein. Die Werbeindustrie hat diesen ideologischen Spagat kongenial erkannt: Ich will so bleiben, wie ich bin. Du darfst.
All das hat dazu geführt, dass der Herzinfarkt heute nicht mehr so hoch bewertet wird wie noch vor 15, 20 Jahren – außerdem erleiden ihn Arbeiter häufiger als die ach so stressgeplagten Führungskräfte. Aus dem ehedem hoch geachteten „Herzschlag“ ist inzwischen eine Krankheit derjenigen geworden, die sich falsch ernähren oder den Fitness-Boom verschlafen haben. Und die zu allem Überfluss auch noch „Lipobay“ einnehmen mussten.
Die Schurkenrolle ist dem Cholesterin in unserem kollektiven Bewusstsein so zugeschrieben worden, dass auch gelegentliche wissenschaftliche Zweifel daran nichts ändern können. Ende der 90er-Jahre kam die Hypothese auf, dass Herzinfarkt auf Basis einer Gefäßentzündung durch das Bakterium Chlamydia pneumoniae entsteht und der Einfluss der Fettwerte überschätzt wird. Die These „Infarkt durch Infekt“ ließ sich bis heute weder eindeutig be- noch widerlegen. Außerdem können Mediziner ein Cholesterinparadox nicht erklären: Zwar ist unbestritten, dass erhöhte Konzentrationen auch zu einem gesteigerten Risiko für Infarkt und Schlaganfall führen – andererseits fällt der lebensverlängernde Effekt längst nicht so deutlich aus, wenn der Cholesterinspiegel gesenkt wird. Und dann ist da noch das Rätsel mit dem Alter. Ab 65, 70 Jahren scheint ein erhöhter Cholesterinspiegel nicht mehr besonders schädlich zu sein. Studien haben ergeben, dass alte Menschen mit niedrigen Cholesterinwerten früher sterben und selbstmordgefährdeter sind. Kein Grund also, Großmütter auf Diät zu setzen oder ihnen die Sahne von der Torte zu streichen.
Die Ungereimtheiten beim Thema Cholesterin haben dazu geführt, dass seit Jahren um den richtigen Grenzwert gestritten wird. Meist gelten 220 bis 250 Milligramm pro Deziliter als Obergrenze. Demnach hätten mehr als die Hälfte aller erwachsenen Deutschen zu hohe Werte. Wird hier der Durchschnitt pathologisiert und ein Volk krankgeredet oder sind die rigiden Grenzwerte notwendig, um die Volkskrankheit Nummer eins endlich eindämmen zu können? In jedem Fall führt es dazu, dass sich die fettsenkenden Medikamente seit 1988 unter den Top Ten der meistverkauften Arzneimittel behaupten.
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