Aktivistin über Brasilien und Bolsonaro: „Kolonialismus beginnt im Kopf“

Die Aktivistin Célia Xakriabá spricht über den Kampf, den Indigene in Brasilien führen müssen. Es geht um das Land, Wissen und die pure Existenz.

Porträt einer im ganzen Gesicht rot geschminkten jungen Frau

Célia Xakriabá engagierte sich bereits als Teenagerin für Menschenrechte Foto: Anja Weber

taz: Célia Xakriabá, Sie sind mit 13 Jahren Aktivistin geworden. Was war der Auslöser?

Célia Xakriabá: Ich habe von früh an erlebt, wie mein Vater sich für unser Land engagiert hat. Das Jahr 1996, als ich in die Schule kam, war gleichzeitig der Zeitpunkt, zu dem in meiner Region zum ersten Mal indigene Lehrer an der Schule angestellt wurden. So habe ich zum Beispiel gelernt, dass es nicht Pedro Álvares Cabral war, der Brasilien entdeckt hat, sondern dass seine Ankunft in dieser Region der Beginn des portugiesischen Landraubs war. Schon früh habe ich mir die Frage gestellt, warum so etwas in Brasilien sonst nicht thematisiert wird, warum sich die brasilianische Gesellschaft keine Gedanken über die Lage der indigenen Völker macht. So war meine erste Schule der indigene Kampf, das Bewusstsein, dass Kolonialismus im Kopf beginnt, Heilung durch die Verbindung zur Erde.

Wissen Sie noch, worüber Sie mit 13 gesprochen haben?

Ich habe ein sehr gutes mündliches Gedächtnis. Die orale Tradition ist für die indigene Kultur sehr wichtig. Damals gab es eine gerichtliche Entscheidung über die Anerkennung indigener Gebiete der Xakriabá. Ein Argument dafür war, dass auf dem Gebiet eine Anbaukultur bestand. Was mir außerdem bewusst wurde, ist der Anlass, warum die Demarkierungen unserer Gebiete vorgenommen wurden. Das geschah jeweils nur als Zugeständnis, als Reaktion auf die Ermordung eines indigenen Oberhaupts. So ist der Grund der Anerkennung unseres Territoriums, dass 1987, kurz vor meiner Geburt, ein Xakriabá-Oberhaupt ermordet wurde.

Welche Rolle spielt es, dass Sie die erste indigene Akademikerin, die im Bundesstaat Minas Gerais promoviert hat, sind?

Seit der brasilianischen Verfassungsreform von 1988 sind die Rechte auf Selbstbestimmung, Land und Schutz für die indigene Bevölkerung gesetzlich gewährleistet. Diese Rechte und damit den Erhalt des traditionellen Ökosystems stellt Bolsonaro in Frage. Die traditionellen Territorien erkennt er nicht an. Gleich nach Amtsantritt übergab er die Zuständigkeit für die indigenen Gebiete an Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina, eine Agrarlobbyistin.

Im September 2019 veröffentlichte Daten des Indigenous Missionary Council (CIMI) belegen, dass in den ersten neun Monaten von Jair Bolsonaros Amtszeit bereits 153 Mal in indigene Gebiete eingedrungen wurde – doppelt so viel wie im gesamten Jahr davor.

Viele fragen mich: Fühlst du dich wichtig? Genauso wie Sônia Guajajara gefragt wird, ob sie sich wichtig fühlt, weil sie die erste indigene Vizepräsidentschaftskandidatin war. Aber die Frage ist doch vielmehr: Warum müssen wir die Ersten sein? Oder auch: Werden wir vielleicht nicht nur die Ersten, sondern auch die Letzten sein?

Auf Wikipedia steht, dass die Sprache Ihres Volkes, eine Acua-Sprache, ausgestorben sei. Stimmt das?

Ich selbst lehre meine Sprache … Sehen Sie, auf der Straße fragen mich Menschen manchmal: Ah, woher kommst denn du? Bolivien, Kolumbien oder so was? So als seien die Indigenen Brasiliens bereits ausgestorben. So ähnlich ist es wohl auch mit Wikipedia. Dort wird gesagt, unsere Sprache sei tot, aber sie ist es nicht. Es ist nicht nur Bolsonaro, der uns umbringt. Es gibt zwei Strategien, um uns kulturell auszulöschen. Die eine lautet: Indigene behindern den wirtschaftlichen Fortschritt. Die andere: Du nutzt Uhr, Handy, Jeans, du bist keine Indigene mehr.

Wie gehen Sie mit der immer noch eurozentrisch ausgerichteten universitären Ausbildung um?

Man hört immer wieder, dass es wichtig ist, dass man zur Schule geht. Aber man vergisst, dass dieser Prozess der Anhäufung von Diplomen die Nahrungsautonomie der Indigenen unterbindet. Es reicht nicht, Diplome zu haben, man muss auch wissen, wie man das Land bebaut und sich autark ernährt. Menschen, die bei uns die Schule beenden, gehen später in die Städte, um zum Beispiel Agrarwirtschaft zu studieren. In den Kursen werden dann bestimmte mathematische Anwendungen verlangt. Aber das können meine Mit­schüler_innen nicht immer. Sie haben eine andere Mathematik gelernt, eine, die abgeleitet ist von unseren geometrischen Bemalungen. Das aber akzeptieren die Weißen nicht. Sie halten unsere Schulen für schwach. Dabei lernen wir andere Dinge.

Foto: Anja Weber

Haben Sie ein weiteres Beispiel?

Es geht bei uns um eine Heilungs­epistemologie. Du lernst, was du lebst, und umgekehrt. In der weißen Schule lernst du nicht, mit dem Wasser zu sprechen. Woher zum Beispiel kommt der Kampf um den Schutz der indigenen Gebiete? Er kommt aus unserem Konzept von Land als eine Gebärmutter, aus der Leben ersteht. Das Land ist unsere Mutter. Wer ein Territorium hat, kämpft daher um seine Mutter. Wer keines hat, weiß nicht, wovon ich spreche. Jair Bolsonaro versucht nun, uns alles, was uns ausmacht, zu nehmen. Das Land, die indigenen Ausbildungen, das Kontingent der Plätze an den Universitäten. Darum ist es jetzt wichtig, sichtbar zu sein. Nicht nur, um Plätze zu besetzen, sondern, um eine bestimmte Art von Wissensproduktion in Frage zu stellen. Das Gute ist: Das Wissen, das wir in uns tragen, kann uns niemand wegnehmen.

Sie haben die Mathematik der geometrischen Formen genannt. Zum Interview tragen Sie Gesichtsbemalung und Kopfschmuck. Darf ich fragen, ob Sie diese Kleidung vor allem zu repräsentativen Zwecken anlegen oder auch im Alltag?

Sicher, es ist auch ein politisches Zeichen, so aufzutreten, ein Zeichen der Sichtbarkeit. Aber es ist nicht nur repräsentativ. Wenn ich mich so kleide, heißt das, dass ich mit Herz, Seele und Geist anwesend bin. Man bemalt sich nicht für die anderen, sondern für sich selbst. So trage ich meine Kultur mit mir, sie bietet mir eine Orientierung. Auch wenn ich meine Dissertation schreibe, trage ich zum Beispiel den Kopfschmuck. Er hilft mir, eine Verbindung herzustellen.

Dürfte jede_r Xakriabá so einen Kopfschmuck tragen oder ist dies besonderen Menschen vorbehalten?

Der Kopfschmuck und die Bemalung entsprechen einer bestimmten Person und spiegeln die Rolle, die sie in einer Gemeinschaft spielt. Ich habe meinen Kopfschmuck nicht selber gemacht und auch nicht gekauft, sondern von anderen Personen übertragen bekommen.

Célia Xakriabá, fotografiert im Oktober auf der Friedrichstraße in Berlin Foto: Anja Weber

Mit Sônia Guajajara zusammen haben Sie im August einen Marsch der indigenen Frauen organisiert. Wie hängt Ihr brasilianischer Aktivismus mit der Mission Ihrer Europareise zusammen, auf der Sie vor den Gefahren der Politik Bolsonaros, aber auch der europäischen Wirtschaftspolitik, insbesondere dem Mercosur-Abkommen, warnen?

Da wir immer wieder nach Europa eingeladen werden, um über die Problematik der brasilianischen Politik zu sprechen, hat Sônia irgendwann gesagt: Wir können das nicht alleine tun. Wir brauchen mehr Vertreter_innen von indigenen Gemeinschaften aus allen Regionen Brasiliens, sodass wir unsere Anliegen vielstimmiger vortragen können. Daher haben wir diese Reise organisiert.

Es gibt noch unkontaktierte Völker im Amazonas. Sprechen Sie auch für jene, und wenn ja, wie? Wer kann für wen sprechen?

Wie kann man für andere sprechen? Ja, wir sehen uns in der Pflicht, für Völker zu sprechen, die noch in freiwilliger Isolation leben. Aber wir möchten keinen Kontakt erzwingen, im Gegenteil: Wir möchten gewährleisten, dass der Regenwald erhalten bleibt und sie weiter in Isolation leben können.

Mit welchen konkreten Forderungen treten Sie an Ihre europäischen Gesprächspartner_innen heran?

trägt den Namen ihrer Volksgruppe, der zwischen den Metropolregionen im Südosten Brasiliens beheimateten Xakriabá. Die 29-Jährige promoviert in Anthropologie und setzt sich in Brasilien, wo die fünfthöchste Femizid-Rate der Welt verzeichnet wird, für die Sichtbarkeit indigener Frauen in Politik und Bildungswesen ein. Ihre Lieblings­farbe ist, wie sie auf dem Weg zum Interview verrät, Gelb. Daher freut sie sich über die Berliner Straßenbahnen. In Berlin ist Célia Xakriabá im Rahmen der Aufklärungskampagne „Indigenes Blut: Nicht einen Tropfen mehr“, auf der acht Indigene in Leitungspositionen (Oberhäupter) zwölf europäische Länder bereisen, um über die von dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro aus­gehende Gefahr aufzuklären sowie Forderungen an die europäische Agrarindustrie zu stellen. Das Interview fand in der Berliner WWF-Zentrale statt.

Die Länder, die wir in Europa besuchen, müssen über ihre eigene Gesetzgebung nachdenken. Zum Beispiel möchten wir verständlich machen, wie wichtig es ist, in der Nahrungsmittelproduktion autark zu sein. Abgesehen von den ökologischen Folgen einer Importindustrie kann niemand einen globalen Nahrungsmittelmarkt und die Vor-Ort-Bedingungen wirklich kontrollieren. Auch durch Soja-Anbau werden zum Beispiel viele Menschenleben zerstört. Daher muss das eigene Konsumverhalten überprüft werden. Der Fleischkonsum muss reduziert werden. Das hat am Ende eine Konsequenz.

Haben Sie Hoffnungen, ein Umdenken zu erreichen?

Große Hoffnungen. Denn das neue europäische Bewusstsein für Klimapolitik kommt unserem Anliegen sehr entgegen. Klimaschutz ist nicht nur eine Alternative, sondern die Lösung, damit wir Menschen friedlich miteinander leben können.

Übersetzung aus dem Portugiesischen von Martha Hincapié Charry und Elia­ne Fernandes Ferreira

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.