Aktivistin über Ägypten unter al-Sisi: „Das System basiert auf Angst“
Was bedeutet es, zehn Jahre unter Ägyptens Militärdiktatur zu leben? Sanaa Seif spricht über Wut, Widerstand und ihre Erwartungen an den Westen.
wochentaz: Sanaa Seif, vor zehn Jahren entmachtete Ägyptens Militär unter dem heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi die Muslimbrüder, die nach der Revolution von 2011 an der Macht waren. In Kairo herrschte Volksfeststimmung. Was haben Sie an dem Tag gemacht?
Sanaa Seif: Ich ging zum Tahrir-Platz, um die Menge zu beobachten. Ich hatte Angst und war enttäuscht. Klar, Revolutionen funktionieren nicht immer. Aber dieser Tag war bitter, weil wir als Demokratiebewegung nicht nur von Politikern besiegt wurden. Normale Leute gingen für Sisi auf die Straße. In der U-Bahn sprach damals eine Frau über Sisi. Als ich skeptisch guckte, sagte sie: Die Revolutionsjugend hat ihren Job erledigt, jetzt sind die Erwachsenen dran. Ich dachte, das war’s für mich mit der Politik.
Warum kam es anders?
Mein Bruder Alaa wurde festgenommen. Wäre das nicht gewesen, hätte ich meinen Klassenstatus und meine Privilegien genossen.
Die Revolutionärin
29 Jahre alt, ein Gesicht des Arabischen Frühlings. Die Filmemacherin lebt in Kairo und setzt sich für die Freilassung ihres Bruders Alaa Abdel Fattah ein. Auch ihre Schwester und ihre Mutter sind politisch aktiv. Ihr Vater war bekannter Menschenrechtsanwalt.
Die Gegenrevolution
Im Juli 2013 putschte Ägyptens Militär und setzte den Islamisten Mohammed Mursi ab. Der war nach dem Sturz Husni Mubaraks 2011 in freien Wahlen zum Präsidenten bestimmt worden. (hag)
Ihr Bruder Alaa Abdel Fattah sitzt seit 2014 fast ununterbrochen in Haft. Haben Sie Kontakt?
Ich sehe ihn einmal im Monat. Hinter einer Glasscheibe mit Lautsprechern.
Während der UN-Klimakonferenz COP27 im November in Scharm al-Scheich trat er in einen Hungerstreik. Wie geht es ihm?
Seine Zelle hat jetzt ein Fenster, er kann Musik hören, hat TV. Nach der COP haben wir in der Familie überlegt, ob Alaa nochmals in den Hungerstreik treten soll. Aber als wir erfuhren, dass meine Schwester schwanger war, beschlossen wir, nicht an Hungerstreik zu denken, sondern an das Baby.
Was ist aus Ägypten geworden seit Sisis Machtübernahme?
Dieses Regime hat unser Land verwüstet. Die meisten, die Sisi unterstützten, bereuen das. Wir haben früher schon in einer Diktatur gelebt, aber nicht in einer so rigiden. Die Wirtschaft ist im freien Fall, der öffentliche Raum abgeriegelt. Man spürt, dass etwas sehr Destabilisierendes am Werk ist. Irgendwas wird passieren, und ich habe Angst, dass es kein netter Arabischer Frühling sein wird. Das Land ist voller Wut. Aber es gibt kein Ventil, um diese Energie auf positive Weise rauszulassen.
Warum entspringt aus dieser Energie nicht erneut Aufstandspotenzial?
Aufstände passieren nicht einfach so. 2011 gab es eine breite Basis, heute fehlt jede politische Grassroots-Organisation. Uns droht ein Teufelskreis: Sisi wird mit Instabilität drohen, und der Westen wird sie als Ausrede nutzen, um ihn weiterhin zu unterstützen.
Wenn selbst Sie nicht mehr an Revolution glauben, warum werden dann Leute wie Ihr Bruder und Sie ins Gefängnis geworfen?
Das System basiert auf Angst. Alaa gehen zu lassen, wäre ein Zeichen von Schwäche. Das Regime hat sich Leute gesucht, um Exempel zu statuieren. Auf der islamistischen Seite waren es die Führer der Muslimbruderschaft, auf der säkularen war Alaa einer der Unglücklichen.
Es hätte andere treffen können?
Natürlich ist meine Familie prominent, vor allem aber, weil sie uns benutzen. Das alles ist ein Werk des Regimes. Wenn man in die Enge getrieben wird, wehrt man sich und wird zu einem Symbol des Widerstands. Das Ganze ist aus dem Ruder gelaufen.
Ihre Familie hatte keine Wahl?
Entweder sprechen wir offen oder gehen kaputt.
Sanaa Seif, politische Aktivistin, über ihre Zeit im ägyptischen Gefängnis
Sie saßen von 2020 bis 2021 im Gefängnis. Ihnen wurde sogar Terrorismus vorgeworfen.
Am Ende wurde ich aber nicht deswegen verurteilt [sondern u. a. wegen „Verbreitung von Falschinformationen“; Anm. d. Red.). Aber mein Prozess fand vor Terrorismusgerichten statt. Ich habe die Antiterrormaschinerie von innen gesehen. Das hat mich zur Überzeugung gebracht, dass das Regime inkompetent ist. Sie kämpfen gegen die falschen Leute.
Was meinen Sie?
Ein Beispiel: In der U-Haft steckten sie mich in einen unterirdischen Käfig. In diesen Käfigen waren auch andere, denen Terrorismus vorgeworfen wurde. Eine Frau erzählte, sie sei vom „Islamischen Staat“. In der Szene weiß man: Wer sich stellt und Informationen preisgibt, wird verschont. Diese Frau wusste, wo Waffen lagern. Als ich sie traf, war sie länger als ein Jahr im Gefängnis, aber niemand hatte ihre Aussage aufgenommen. Stattdessen holten sie mich ab, der Staatsanwalt verhörte mich stundenlang. Ich sagte, da unten sitzt eine Frau mit Informationen – warum verschwenden Sie Ihre Zeit? Ich war immer pessimistisch, was ägyptische Behörden angeht, aber ich wusste nicht, dass sie so inkompetent sind.
Nach Ihrer Freilassung sprachen Sie auf der COP27 über Ihren Bruder, was international Schlagzeilen machte. War das ein Erfolg?
Jein. Für einen Moment standen die Menschenrechte in Ägypten im Mittelpunkt. Dabei hatte ich befürchtet, dass mich niemand wahrnimmt.
Aber?
Meine Pressekonferenz hat sehr viel Verantwortung mit sich gebracht. Andere Gefangene in Ägypten schauen jetzt auf den Kampf meiner Familie, denn mein Auftritt wurde auch im Inland aufgegriffen. Ein Parlamentsabgeordneter versuchte mitten in der Pressekonferenz zu stören. Er wurde vom UN-Sicherheitspersonal aus dem Raum eskortiert und schrie: Ich bin hier auf ägyptischem Boden! Ein Video davon ging in Ägypten viral, auch die Inlandspresse berichtete. Das hat mir Angst gemacht. Ich hatte nach meiner Entlassung aufgehört, mich in Ägypten aktiv zu engagieren. Es schien in Ordnung zu sein, das Regime international zu blamieren. Die rote Linie ist, wenn das ägyptische Volk internationale Blamagen aufgreift.
Warum?
Sisi übt seine Macht auf uns Ägypter aus, indem er zeigt, wie fest seine Allianzen sind mit Saudi-Arabien, den USA, Israel, Deutschland, Russland. Die Unterstützung braucht er, um zu zeigen: Er sitzt fest im Sattel.
Bekommen Sie in Ägypten auch Unterstützung?
Die Leute haben Angst, aber die Reaktionen auf der Straße sind positiv. Vor Kurzem auf einem Markt erkannten mich die Verkäufer und weigerten sich, von mir Geld anzunehmen. Oder im Flugzeug: Der Flugbegleiter fragte immer wieder, ob ich etwas trinken möchte. Ich bestellte Tee, auf der Serviette stand „Freiheit für Alaa“.
Wie sehen Sie Deutschlands Rolle in Bezug auf Ägypten?
Ich sehe westliche Regierungen kritisch, aber die aktuelle Bundesregierung ist im Vergleich zu früheren um einiges besser, auch wenn das noch kein großes Verdienst ist. Die Grünen bemühen sich. Bis jetzt hat es noch keine wahnsinnig großen Waffendeals gegeben. Dennoch: Wir brauchen mehr Druck.
Was sollte Deutschland tun?
Die Zusammenarbeit mit der ägyptischen Polizei zu beenden wäre einfach.
Was noch?
Die ägyptische Diaspora in Deutschland schützen. Die ägyptische Botschaft überwacht Ägypter. Die Behörden haben hier viel mehr Freiraum, um Aktivisten einzuschüchtern, als in anderen Hauptstädten. Außerdem könnte Deutschland auf eine Erklärung des UN-Menschenrechtsrats hinwirken. Es ist auch in Deutschlands Interesse, die Lage in Ägypten zu verbessern. 2022 gab es einen sprunghaften Anstieg der Zahl ägyptischer Einwanderer nach Europa.
Auch bei der Schiffskatastrophe im Mittelmeer im Juni waren viele Ägypter*innen dabei.
Das hat mich nicht überrascht. Ich habe von Familien gehört, die ihren Sohn auf dem Mittelmeer verloren haben und gleich den nächsten losschickten. Mein Land wird immer unerträglicher. Wir brauchen Druck, damit sich der öffentliche Raum öffnet. Die Menschen ersticken in diesem Land, sie werden fliehen. Die Lösung darf nicht lauten, immer mehr Geld in die Grenzsicherung zu pumpen. Werft weiter mit Geld und Waffen auf uns, dann wird Ägypten explodieren. Wir sind 100 Millionen, wir sind nicht Syrien. Wenn die Syrer schon furchterregend sind, dann wartet mal auf die Ägypter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg