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„Die Polizisten wussten angeblich nicht, was in einem KZ passiert“

Auf dem Bremer Friedhof Buntentor liegen sowohl NS-Täter – Wehrmachtssoldaten, die den Warschauer Aufstand niederschlugen – als auch Opfer, vor allem Sinti und Roma. Das Grab der Familie Dickel hat eine ganz besondere Geschichte

Erzählt eine bewegende Geschichte: das Grab der Sinti-Familie Dickel auf dem Bremer Friedhof Buntentor privat Foto: Foto:

Interview Petra Schellen

taz: Herr Gerardu, wer liegt auf dem Bremer Friedhof Buntentor begraben?

John Gerardu: Unter anderem Täter und Opfer des NS-Regimes. Fangen wir mit den Tätern an. Da wäre zum Beispiel das Grab von Theodor Wehmann, verstorben am 4. September 1944. Auf seinem Grabstein steht, dass er Leutnant und Kompanieführer der Wehrmacht war, das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse hatte und in Warschau starb. Als ich das las, wurde ich sofort hellhörig. Er muss also während des Warschauer Aufstands – dem verzweifelten Versuch der Bevölkerung, den deutschen Besatzern etwas entgegenzusetzen – umgekommen sein. Seine Familie hat auf den Grabstein geschrieben: „Er lebt mit uns weiter und bleibt unser Stolz.“ Natürlich, ich habe Verständnis dafür, dass die Familie in erster Linie den Sohn sieht und sich auf einem Grabstein nicht gleich mit der Geschichte auseinandersetzt. Aber die Frage ist doch: Worauf ist man eigentlich stolz?

Zumal die Deutschen den Warschauer Aufstand blutig niederschlugen.

Eben. Ein weiteres Tätergrab erinnert an Gustav Schade. Er starb am 4. Dezember 1938 als Mitglied der „Legion Condor“ in Spanien. Er ist also bereits vor dem Zweiten Weltkrieg für das Vaterland gefallen, in einem illegalen Krieg, den Hitler zur Unterstützung des spanischen, faschistischen Diktators Franco führte. Das deutsche NS-Regime hat damals Piloten und anderes Personal illegal nach Spanien gebracht. Auch Flugzeugteile hat man in kleinen Kisten auf die Kanarischen Inseln gebracht, wo sie zusammengebaut wurden. Das alles war verboten, denn Deutschland durfte laut Versailler Vertrag keine Luftwaffe haben. Gustav Schade wurde nur 25 Jahre alt und ist „den Kriegertod in der Blüte seines Lebens“ gestorben, wie es auf dem Grabstein steht. Weiter steht da: „Du starbst als Held und treu bis in den Tod.“ Auf dem Stein liegen außerdem ein steinerner Helm, ein Propeller und ein Dolch. Seine Eltern sollen stolz darauf gewesen sein, dass er bei der „Legion Condor“ angenommen wurde.

Sprechen wir jetzt über die Gräber der NS-Opfer.

Ja. Wichtig ist zum Beispiel das Grab der Sinti-Familie Dickel. Der als erster auf dem Grabstein Verzeichnete ist der 1929 verstorbene Johann Dickel. Auch seine 1943 gestorbene Frau liegt dort beerdigt, außerdem ein Bruder von Johann mit seiner Frau und deren Tochter. Letztere sind alle nach 1945 gestorben. Deshalb haben wir – die Initiative „Spurensuche“ und der „Arbeitskreis Erinnern an den März 1943“…

… damals wurden die Bremer Sinti und Roma deportiert …

… das Grab zunächst nicht beachtet. Es deutete nicht auf eine direkte Verfolgung dieser Familie durch das NS-Regime hin. Es ist insbesondere dem Historiker Hans Hesse, der Mitglied in unserem Arbeitskreis ist, zu verdanken, dass wir inzwischen so viel über die Familie Dickel, aber darüber hinaus auch über alle verfolgten Sinti und Roma aus Nordwest-Deutschland wissen. 2021 und 2022 sind diesbezüglich zwei Gedenkbücher von ihm erschienen.

Was genau macht Ihr Verein „Spurensuche“?

Begonnen hat es mit der Webseite spurensuche-bremen.de. Sie ist inzwischen Teil des Vereins „Erinnern für die Zukunft“. Ich habe sie vor zwölf Jahren gemeinsam mit anderen Aktivisten und Interessenten eingerichtet, um Orte, Personen und Ereignisse in Bremen aufzulisten, die im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus stehen. Inzwischen machen wir, gemeinsam mit dem erwähnten Arbeitskreis und der „Denkorte“-Initiative Neustadt, auch Schülerprojekte und Führungen, zum Beispiel über den Friedhof Buntentor.

Und wie ging die Recherche zur Familie Dickel weiter?

Als der Arbeitskreis 2020 die Gedenkstätte im einstigen Deportations-Durchgangslager im niederländischen Westerbork besuchte, fragte uns einer der dortigen Historiker, ob wir Informationen zu Julius Dickel hätten. Bei ihm hatte sich Linda Dickel aus Rotterdam gemeldet, seine Tochter. In dem Bremer Dickel-Familiengrab sind Julius Dickel, seine Geschwister und Eltern allerdings nicht beerdigt. Denn sie alle sind im März 1943 von der Bremer Polizei aufgegriffen und mit sämtlichen anderen Bremer Sinti und Roma ins „Zigeuner-Familienlager“ Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Julius Dickel überlebte als einziger: Er war damals 16, hatte wohl eine kräftige Statur und wurde als „arbeitstauglich“ eingestuft. Er ist in verschiedenen Lagern gewesen, unter anderem in Buchenwald. Zuletzt kam er nach Theresienstadt und von dort nach der „Befreiung“ 1945 zurück nach Bremen.

Was hat Julius Dickel nach Kriegsende gemacht?

Als er erfuhr, dass seine Familie in Auschwitz ermordet worden war, ging er zum Familiengrab auf dem Buntentor-Friedhof. Dort erfuhr er von einem Friedhofswärter, dass ein Onkel von Julius Dickel in den Niederlanden lebte. Er war schon Anfang der 1930er-Jahre dort hingezogen. Auch Julius Dickel zog jetzt dorthin. Als der Onkel 1951 zurück nach Deutschland ging, blieb Julius in den Niederlanden, lebte in Den Haag und Groningen. 1968 heiratete er und bekam eine Tochter – Linda. Er blieb allerdings nur drei, vier Jahre bei der Familie – wobei man sagen muss, dass er durch die KZ-Haft schwer traumatisiert war. Er musste Antidepressiva nehmen, stand ständig unter Medikamenten. Er hat wohl ein unstetes Leben geführt, ist schließlich nach Offenburg in Baden-Württemberg gegangen und 1993 gestorben.

Und seine Tochter wusste nichts von alldem?

Nein. Als ich Linda anrief und ihr das alles erzählte – ich bin Niederländer und konnte in ihrer Muttersprache mit ihr reden – fiel sie aus allen Wolken. Es war ja das erste Mal, dass sie so viel über ihren Vater erfuhr. Denn bis auf die Heirat mit ihrer Mutter wusste sie nichts über ihn. Und jetzt hörte sie von seinen Geschwistern, Eltern, Großeltern. Da Julius Dickels Grab in Offenburg aber inzwischen eingeebnet war, fragte Linda uns vom Arbeitskreis, ob wir einen Stein zur Erinnerung an ihren Vater legen könnten. Das haben wir im Mai dieses Jahres getan.

Stehen dort inzwischen auch die Namen der im KZ ermordeten Familienmitglieder?

Nein, dafür war nicht genug Platz auf dem Stein. Das Dickel-Grab steht unter Denkmalschutz und darf nicht verändert werden. Wir haben aber auf einem Areal vor dem Grab einen Extrastein für Julius Dickel verlegen können.

Wer hat das bezahlt?

Die Bremer Senatskanzlei. Sie unterstützt uns genauso wie der Beirat Neustadt, der weitere Gedenkstelen an NS-Opfer oder Täterorte in der Neustadt finanziert hat. Unter anderem eine neue, die am 19. November 2022 eingeweiht wird. Sie wird an die verfolgten Sinti und Roma erinnern, die auf dem gesonderten Gräberfeld des Friedhofs beerdigt sind.

Hat Julius Dickel je Wiedergutmachung für das erlittene Leid erhalten?

Ja, aber es war mühsam. 1961 hat er Strafantrag gegen den Kripobeamten Wilhelm Mündtrath, Haupttäter der Bremer Sinti- und Roma-Verfolgung, gestellt. Er hatte Dickels Familie im Wohnwagen in Bremen-Gröpelingen verhaftet, sie persönlich zum Schlachthof gebracht, von wo aus sie drei Tage später nach Auschwitz deportiert wurden. Mündtrath und mehrere andere Polizisten sind mitgefahren, haben die Menschen am Tor an die SS übergeben, durften aber nicht in das Lager hinein.

Aber sie wussten schon, was im KZ passierte?

Angeblich nicht. In besagtem Verfahren haben sie es alle abgestritten. Dabei gibt es in den Akten deutliche Hinweise darauf, dass sie es wussten.

Wurden die Polizisten bestraft?

Nein. Es gab keine Beweise dafür, dass sie von den Morden wussten. Man konnte ihnen keine Beihilfe zum Mord nachweisen.

Auf dem Buntentor-Friedhof gibt es viele weitere Sinti- und Roma-Gräber. Was hat es damit auf sich?

Das Dickel-Grab liegt einzeln auf dem historischen Teil des Friedhofs und ist wahrscheinlich das älteste bekannte Bremer Grab für eine Sinti-Familie. Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre hat man dann vermutlich angefangen, den Sinti und Roma einen Platz im hinteren Teil des Friedhofs zuzuweisen. Das erste Grab in diesem neueren Teil war das einer Sintezza. Ihre Familie hatte die Gruft übernommen, in der Johann Knief lag, 1918 Mitbegründer der KPD.

privat

JohnGerardu

70, hat die Initiative „Spurensuche Bremen“ mitgegründet und ist Mitglied im Arbeitskreis „Erinnern an den März 1943“. Er führt regelmäßig Interessenten über den Friedhof Buntentor.

Wie kam das?

Seine Familie hatte die Grabstelle irgendwann aufgegeben, und die Sinti-Familie übernahm sie. Später haben sie eine eigene Grabstelle erworben. Die Sinti-Familiengräber sind sehr groß, prunkvoll und haben viel Blumenschmuck. Inzwischen gibt es in Buntentor etwa 60 Sinti-Gräber und -grüfte. Sie sind alle mit massiven Marmorplatten bedeckt. Nach der Bestattung kommen die Familienmitglieder noch ungefähr 40 Tage fast täglich zum Grab, stellen zum Teil Stühle oder Bänke auf. Sie stellen Aschenbecher auf, damit sie auch für den Verstorbenen eine Zigarette da lassen können, legen Erinnerungsstücke, Kuscheltiere und andere bedeutsame Gegenstände auf das Grab.

Auf dem Friedhof gibt es außerdem ein Mahnmal für die Opfer der Gasexplosion 2020 in einem Altenheim im Geschworenenweg.

Ja, und auch hier gibt es eine Verbindung zu den Bremer Sinti und Roma. Der Geschworenenweg liegt nur zwei Straßen vom Friedhof Buntentor entfernt. Auf dem Grundstück, wo die Explosion stattfand, stand früher eine Schule. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg bei alliierten Bombenangriffen zerstört. Auf dem Schulhof siedelten sich nach 1945 Sinti-Familien an, die aus dem KZ kamen. Dann gab es Beschwerden aus der Bevölkerung, und alle Bremer Sinti- und Roma-Quartiere wurden aufgelöst und ein zentraler Ort festgelegt.

Wo lag er?

Er lag im ehemaligen KZ Riespott auf dem Gelände der Bremer Stahlwerke, direkt an der Weser, weit abseits. 1948 wurden die Sinti und Roma gezwungen, dort hinzuziehen. 1955 beanspruchten die Stahlwerke das Gelände dann für sich, weil sie ihren Hochofenbetrieb erweitern wollten. Außerdem wollte die Stadt dort ein Hafenbecken anlegen. Also wurde das „Zigeunerlager“ wieder aufgelöst und die Sinti und Roma zurück in die Neustadt gebracht – an die Wartumer Heerstraße auf eine Mülldeponie.

Blieben sie dort?

Ja, eine ganze Weile, und Ende der 1960er-Jahre löste sich das Lager von selbst auf, weil die Menschen in andere Stadtteile zogen.

Zurück zum Geschworenenweg und der Gasexplosion …

Ja. Ein weiterer Grund, warum die Sinti und Roma von dort weg sollten, war, dass die Bremer Heilsarmee das Gelände kaufen wollte. Nachdem die Sinti und Roma weggezogen waren, hat die Heilsarmee dort ihre Zentrale eingerichtet. Später kam ein Freizeitheim dazu sowie ein Seniorenheim. Am 20. November.2000 gab es eine Gasexplosion, nachdem ein Bagger ein Zuleitungsrohr beschädigt hatte. Zwölf Menschen starben.

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