Aktionäre wollen Entschädigung: Mammutprozess um Wirecard-Skandal beginnt
Das Musterverfahren gegen Ex-Manager und Wirtschaftsprüfer des mutmaßlichen Betrugskonzerns startet. Tausende Anleger haben Ansprüche angemeldet.
![Ein Musterverfahren vor dem 1. Zivilsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts in München zu Schadenersatzansprüchen tausender Aktionäre des im Jahr 2020 zusammengebrochenen Wirecard-Konzerns Ein Musterverfahren vor dem 1. Zivilsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts in München zu Schadenersatzansprüchen tausender Aktionäre des im Jahr 2020 zusammengebrochenen Wirecard-Konzerns](https://taz.de/picture/7371123/14/37076241-1.jpeg)
Das bedeutet: Stellvertretend für die vielen Aktionäre wird die Klage eines Geschädigten gegen die früheren Wirecard-Verantwortlichen grundsätzlich vor Gericht behandelt und entschieden, ob und von wem eine Entschädigung zu leisten ist. Dieses Urteil liefert dann eine klare Richtung, wie mit den vielen anderen mutmaßlich betrogenen Aktionären umzugehen ist.
Es geht um sehr viel Geld, und es ist ein Prozess, der in vielerlei Hinsicht die Dimensionen sprengt. Das beginnt mit dem Ort: Verhandelt wird nicht in einem Gerichtssaal, sondern an der Messe München im großen Wappensaal. Denn dort ist deutlich mehr Platz für die vielen Verfahrensbeteiligten, Zuschauer und Journalisten.
Insgesamt haben 8.500 Aktionäre Ansprüche angemeldet gegenüber den Wirecard-Managern um Vorstandschef Markus Braun sowie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst and Young (EY) mit Hauptsitz in Stuttgart, welche über Jahre die mutmaßlich gefälschten Wirecard-Bilanzen abgesegnet hatte.
Ansprüche von insgesamt 750 Millionen Euro
Um 10.20 Uhr eröffnet die Vorsitzende Richterin Andrea Schmidt, Präsidentin des Obersten Landesgerichtes, die Verhandlung. Der Saal bietet ein beeindruckendes Bild. Vorne unter der Richterbank sitzen sich Kläger und Beklagte gegenüber, dann kommen mehrere Reihen mit sogenannten „Beigeladenenvertretern“. Das sind an die 80 Anwälte, die verschiedene Aktionäre vertreten.
Dahinter sitzen die Medien und an die 80 Zuschauer. Der Saal ist 100 Meter lang und 40 breit, die mit Intarsien verzierte Decke befindet sich sehr weit oben in 20 Metern Höhe. An den Wänden sind prunkvolle Wappen verschiedener bayerischer Städte angebracht – Straubing, Bamberg, Rosenheim.
Insgesamt geht es um Ansprüche von 750 Millionen Euro, die sich die Kläger holen wollen. Es ist ein Zivilverfahren, das anderen Regeln folgt als ein Strafprozess. Nicht zu verwechseln ist es mit dem Prozess, der seit Ende 2022 gegen Markus Braun und die Manager Oliver Bellenhaus sowie Stephan von Erffa im Hochsicherheits-Gerichtssaal am Gefängnis Stadelheim läuft.
Die drei, Markus Braun ist weiterhin in Haft, sind nun in der Wappenhalle auch beklagt, aber nicht erschienen – müssen sie in einem Zivilprozess auch nicht. Ebenso nicht da ist der vom Gericht bestimmte Musterkläger Kurt Ebert. Dieser ist ein früherer Banker und Wirecard-Aktionär. Ebert weilt, wie sein Anwalt Peter Mattil in einer Verhandlungspause erzählt, in den Wintermonaten in Südafrika.
In ihrer Einführung berichtet die Richterin Schmidt knapp, wie Wirecard innerhalb weniger Tage implodierte, nachdem die Firma eine Mitteilung an die Aktionäre herausgegeben hatte, dass auf den Konten verbuchte 1,9 Milliarden Euro nicht vorhanden seien.
Den Aktionären, die – wenn überhaupt – nur einen Bruchteil ihres Verlustes zurückerhalten könnten, macht Schmidt ein wenig Hoffnung. Sie meint, sie denke bei Zivilverfahren immer an eine „gütliche Einigung“ – darin kann man interpretieren, dass sie die Beklagten zumindest prinzipiell nicht für schuldlos hält.
Kommt die Verjährung vor Verfahrensende?
Der Prozess richtet sich, das sagen die Kläger offen, hauptsächlich gegen EY und deren Prüfer. Denn von den einstigen Wirecard-Führungskräften dürfte kaum mehr etwas zu holen sein, falls sie im Strafprozess verurteilt werden. Obendrein hatte Markus Braun nach eigenen Angaben den Großteil seines Vermögens in Wirecard-Aktien gesteckt, die nun nichts mehr wert sind.
Ob sich aber EY wiederum so sehr schuldig gemacht hat, daran bestehen nach einer vorläufigen groben Einschätzung der Richterin gewisse Zweifel. Sinngemäß sagt sie über EY, dass deren Leute nicht mutwillig gelogen hätten, sondern ihnen falsche Zahlen gegeben worden waren.
Es ist das größte Zivilverfahren, das es in der Bundesrepublik je gab. Und es dürfte sich über Jahre ziehen – so lange, so fürchten die Anleger, bis mögliche Ansprüche verjährt sind.
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