„Aktenzeichen XY“: Mehr als Verbrechen
Dokumentarfilmerin Regina Schilling hat in den ZDF-Archiven von „Aktenzeichen XY … ungelöst“ gegraben – und mit dem Material den Zeitgeist analysiert.
Keine Frage, es braucht diesen Film. Sonst glaubte man es nicht: Das deutsche TV war einmal Vorreiter und wurde von anderen nachgemacht. Das erste True-Crime-Fernsehformat weltweit flimmerte tatsächlich über die hiesigen Bildschirme: „Feierabend in Roth, einem kleinen Ort im Dillkreis am Fuße des Westerwaldes. Der Schmied Eberhard Saller verlässt mit dem Moped seine Wohnung, um in der Umgebung des Dorfes, wie er der Polizei später berichtet, Farnkräuter für seinen Garten zu suchen.“ Schmied, allein was für Berufe die Leute damals hatten.
„Für die meisten Frauen endet die Arbeit mit der Hochzeit. Dann werden sie Hausfrauen“, erklingt die Stimme der Sprecherin Maria Schrader aus dem Off. Nein, die Filmemacherin Regina Schilling stimmt hier nicht zu einem Loblied auf Eduard Zimmermann und das von ihm erfundene und ab 1967 30 Jahre lang moderierte Format „Aktenzeichen XY … ungelöst“ an.
„Ich gehöre zur ersten Generation Kinder, die mit dem Fernseher im Wohnzimmer aufwuchs.“ Aus dieser Erfahrung schöpft sie nicht zum ersten Mal. Vor fünf Jahren berührte ihr Film „Kulenkampffs Schuhe“ viele Menschen. Jeder, dessen Kindheit irgendwie in die 60er bis 80er Jahre gefallen war, konnte die von ihr rekapitulierten Seherfahrungen mit Hans-Joachim Kulenkampff, Hans Rosenthal und Peter Alexander bestätigen.
Die Verknüpfung der Lebensgeschichten der einstigen Showgrößen mit der ihres eigenen Vaters gelang ihr virtuos, zumal Schilling nicht einfach ein nostalgisches Bedürfnis bediente, sondern das Kriegstrauma, die Schuld, die Verdrängung der Elterngeneration in deren so scheinbar harmlos und lustig daherkommender Fernsehunterhaltung offenlegte. „Kulenkampffs Schuhe“ war nicht weniger als ein Psychogramm der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Was faszinierte?
Und genau das ist nun auch ihr Film über „XY“. „Was faszinierte unsere Eltern damals so? War es die Lust an der Angst?“, fragt Schilling. Oder: „Fühlten sie sich selbst noch als Opfer? Nachdem sie den Krieg verloren hatten und vor der Welt als Täter standen?“ Fun Fact: Der Gangsterschreck Nummer eins der Nation und von Ulrike Meinhof so genannte „Fernseh-Sheriff“ hatte selbst eine mindestens kleinkriminell zu nennende Vergangenheit. Er hatte sich auf dem Schwarzmarkt von der Polizei aufgreifen und mit gefälschtem Diplom als Ingenieur anstellen lassen.
Keine Ausbildung, sondern praktische Erfahrungen als Insasse im berüchtigten DDR-Knast Bautzen ermöglichten ihm dann den Einstieg in den westdeutschen Journalismus und beim gerade gegen den „Rotfunk“ in der ARD neu gegründeten ZDF. Dort und mit Kollegen wie dem Kommunistenfresser Gerhard Löwenthal findet Zimmermann das richtige Umfeld, um mit seiner erzkonservativen, wenn nicht reaktionären Agenda loszulegen, die er auch noch als Aufklärung verkaufte.
„Ein Mann, der durch seine Lebensführung erhöhten Lebensrisiken ausgesetzt war“, heißt es bei „XY“ über einen Schwulen. Wehe dem, der – wehe der, die die „geordneten bürgerlichen Bahnen“ verlässt: „Ich sage Ihnen sicher nichts Neues, meine Damen und Herren: Frauen, die ihr Leben in Kneipen und mit vielen mehr oder weniger zufälligen Männerbekanntschaften verbringen, leben gefährlich.“
„Eine Geschichte inszeniert Eduard Zimmermann immer und immer wieder“, stellt Schilling fest: „Es war einmal ein Mädchen. Das hatte ein schönes Zuhause. Es zog aus in die Welt und wollte Spaß …“ Andere Geschichten – von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung in der Ehe, Missbrauch in der Familie – kommen in den Erzählungen von Eduard Zimmermann hingegen schlicht nicht vor. Ganz gleich, was sich aus der Kriminalstatistik dazu ergibt – die wird einfach passend gemacht. Schilling schwant etwas: „Hat er uns 30 Jahre lang ein Märchen erzählt? Damit wir Frauen brav zu Hause bleiben?“
Dabei hätte die aufmerksame Zuschauerin Anzeichen von Rückständigkeit schon früh erkennen können: „Während die meisten Sendungen schon in Farbe sind, bleibt die ‚XY‘-Welt bis Ende 1974 schwarz-weiß.“ Die Filmkunst der Regina Schilling hat sehr viel mit solcher mal leiser, mal lauter tönenden Ironie zu tun. Kleine Ironie der Geschichte: dass ihr großartiger Film „Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“ nun beim „XY“-Sender ZDF und in dessen Mediathek läuft.
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