Afghanistan nach dem Machtwechsel: Last Exit Kabul Airport
Nach der Machtübernahme der Taliban wollen Tausende Afghanistan verlassen. Ein US-Flugzeug rettete 640 Menschen – anders als die Bundeswehr.
Twitter-Nachricht
Seine Mutter hätte sich auf eigene Faust zum Flughafen durchgeschlagen, eine Benachrichtigung oder gar Begleitung durch Sicherheitskräfte habe sie nicht gehabt. Doch die Soldaten am Airport, die nur englisch sprachen, hätten ihr gesagt, sie stünde auf keiner Liste. Auch anderen Bundesbürgern und Niederländern soll es so ergangen sein.
„Auch unsere Eltern sind in #kabul. Sie sind deutsche Staatsbürger. Das @Auswaertige Amt schickt eine automatisch generierte E-Mail. Wie sollen sie zum #kabulairport? Werden sie uns helfen? Oder werden unsere Eltern in #kabul sterben?“, fragt besorgt eine andere Nutzerin.
Derweil twittert der eingangs erwähnte Sohn bald darauf, er habe den Eindruck, dass sich die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes bemühten. Später berichtet er, das Handy seiner Mutter sei jetzt tot, jetzt könne er nur noch hoffen und beten. Seit zwei Tagen habe es in Kabul keinen Strom mehr gegeben.
Menschen klettern auf ein rollendes Flugzeug
Ein Video am Montag zeigte ein Flugzeug, das wegen Überfüllung Kabul nicht verlassen konnte, in einem anderen Fall liefen Hunderte Zivilisten neben einer zur Startbahn rollenden US-Maschine her und kletterten zum Teil auf das Fahrwerk, um sich dort festzuklammern. Später waren Bilder des startenden Flugzeugs zu sehen, bei der aus großer Höhe etwas herabstürzte. Es hieß, zwei Menschen seien auf Wohnhäuser gefallen.
Das Chaos des bereits am Wochenende vom US-Militär für den Zivilverkehr gesperrten Flughafens führte dazu, dass dort am Montag zunächst weitere Starts und Landungen ausgesetzt werden mussten. In Tumulten starben etwa zehn Menschen, darunter zwei bewaffnete mutmaßliche Talibankämpfer, die sich unter die Menge gemischt hatten und von US-Militärs erschossen wurden. Um die Menschenmenge unter Kontrolle zu bekommen, gaben die etwa 3.000 bis 3.500 US-Soldaten auch Warnschüsse ab. Später konnten sie mit Stacheldrahtrollen zumindest die Rollbahn sichern.
Erst gegen 2.35 Uhr am Dienstagmorgen wurde der Flugbetrieb wieder aufgenommen. Unter den abfliegenden Maschinen befand sich auch ein US-Transportflugzeug vom Typ C-17 Globemaster III, in das sich kurz vor dem Start noch Dutzende Afghanen durch die geöffnete Heckklappe gedrängt hatten. Die Crew entschied sich dennoch zum Start der überfüllten, aber nicht überladenen Maschine. So wurden Hunderte Menschen auf dem Boden des Flugzeugs kauernd ausgeflogen. Nach der Landung in Katar ergab eine Zählung 640 Personen. Eigentlich verfügt der Truppentransporter nur über 134 Sitzplätze.
Doch auch Gegenteiliges geschah. Strikte Kontrollen bewirkten nach Angaben der Bundesregierung, dass ein Transportflugzeug der Bundeswehr mit nur 7 Evakuierten abflog. Mehr hätten nicht in der kurzen, vom US-Militär bestimmten Zeit von maximal 30 Minuten vom zivilen Teil des abgesperrten Airports geholt werden können. Zudem sei eine Anfahrt zum Flughafen während der von den Taliban verhängten nächtlichen Ausgangssperre zu gefährlich gewesen, hieß es am Dienstag vonseiten der Bundesregierung. Mit dem Flieger, der nur mühsam habe landen können, seien deutsche Fallschirmjäger nach Kabul gebracht worden, die deutschen Staatsbürgern und Ortskräften künftig sicheres Geleit zum Flughafen bieten sollen.
Am Dienstagnachmittag traf eine zweite Bundeswehrmaschine ein, die nun mehr als 120 Menschen nach Usbekistan ausflog. Von dort sollen sie später die Bundesrepublik erreichen.
Zufahrt von Taliban kontrolliert
Zwar kontrolliert das US-Militär mittlerweile den Flughafen Kabul samt Terminal wie auch den afghanischen Luftraum, doch die Zufahrten zum fünf Kilometer nördlich des Kabuler Zentrums gelegenen Airport befinden sich in der Hand der Taliban. In Berichten auf Twitter heißt es, diese ließen zwar ausländische Staatsbürger passieren, aber nicht unbedingt Afghanen. Für sie kann es lebensgefährlich werden, wenn ihre Verbindungen zu ausländischen Truppen, Entwicklungshilfeorganisationen, Medien oder Thinktanks an den Checkpoints auffliegen.
So schreibt ein ehemaliger afghanischer Helfer der Bundeswehr an einen deutschen Soldaten, der in Afghanistan gedient hatte, die Taliban kontrollierten alle Zugänge zum Flughafen und würden die Leute durchsuchen. „Das ist lebensbedrohend für uns alle“, schreibt er. Eine afghanischstämmige Deutsche schreibt auf Twitter, dass die Taliban sie zwar letztlich offenbar wegen ihres deutschen Passes durchgelassen hätten, aber ihr zuvor sämtliche Wertsachen abnahmen.
Die USA rechnen damit, pro Tag 5.000 bis 9.000 Menschen aus Kabul ausfliegen zu können, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, John Kirby. In den Vereinigten Staaten stünden drei Militärstützpunkte bereit, um in den kommenden Wochen bis zu 22.000 afghanische Helfer aufzunehmen. „Wir werden wirklich hart arbeiten in den kommenden Wochen, um so viele von ihnen wie möglich aus dem Land zu schaffen“, sagte er. US-Präsident Joe Biden hatte in einer Rede am Montag den Taliban damit gedroht, jeder Angriff auf Menschen oder Abläufe am Flughafen würde sofort mit voller Härte beantwortet.
Eine reibungslose Massenevakuierung, die auch im Interesse der Taliban sein dürfte, setzt eine zumindest informelle Kooperation zwischen den USA und den Gotteskriegern voraus. Der schnelle Zusammenbruch der afghanischen Regierung und die heimliche Flucht von Staatspräsident Aschraf Ghani hatte eine geordnete Machtübergabe und Evakuierung zunächst unmöglich gemacht.
Nach Augenzeugenberichten sind am Dienstag am und um den Flughafen wesentlich weniger Menschen unterwegs als zuvor. Ironischerweise wird sich auch anhand eines reibungslosen Ablaufs der Evakuierungen zeigen, wie weit die Taliban das Land jetzt wirklich kontrollieren oder aber, ob etwa Splittergruppen oder mit dem „Islamischen Staat“ (IS) verbundene Kämpfer dabei noch für Terror, Unruhe und weitere Opfer sorgen.
Mehrere Kommentatoren haben inzwischen die Piloten der US-Maschine mit den 640 Evakuierten für Auszeichnungen vorgeschlagen. Bei Twitter macht noch eine anderes Beispiel für besondere Verdienste von sich reden. Einer nicht überprüfbaren Information zufolge blieb der britische Diplomat Laurie Bristow am Flughafen, nachdem alle seine Kollegen bereits abgeflogen waren, und stellte dort „eigenhändig Visa aus, um so viele wie möglich aus Kabul heraus zu bekommen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Koalitionsvertrag in Brandenburg steht
Denkbar knappste Mehrheit
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“