AfD-Wahlkampf in Sachsen: Heimspiel im Osten
Auf der Zielgeraden des Wahlkampfs treten die AfD-Spitzen in Görlitz auf – das Publikum ist begeistert. Dennoch war der AfD-Wahlkampf durchwachsen.
Ein Mann auf der AfD-Demo fühlt sich davon offenbar provoziert und beginnt, die erste Strophe des Deutschland-Liedes zu singen. Er trägt einen weißen Pullover mit einem Adler auf der Brust, in Fraktur steht Preußen auf dem Ärmel, ebenso auf seiner Schirmmütze. In der Hand hält er eine Schlesien-Flagge, mit einem Adler auf weiß-gelbem Grund.
Als er schon fast bei der zweiten Strophe ist, kommt ein Ordner aus der AfD-Demo zu ihm und sagt, dass er das lassen soll. Der Mann wird wütend: „Ich lasse mir von niemandem verbieten, das Deutschlandlied zu singen!“, schreit er aufgebracht.
In der Nähe der Gegenkundgebung stehen auch ein paar tätowierte Schränke mit Kurzhaarfrisuren. Einer von ihnen trägt ein T-Shirt der rechtsextremen Kampfsport-Marke Label 23, auf dem ein Kampfhund abgebildet ist. Um die Hüfte hat der Mann einen Thor-Steinar-Pullover gebunden. Er ist damit nicht der Einzige hier. Die Gruppe trinkt breitbeinig Flaschenbier und schaut immer wieder amüsiert in Richtung Gegendemo. AfD-Wahlkampf in Görlitz. Ganz normal.
Bürgerliche Leute
Die AfD ist hier nach einem durchwachsenen Wahlkampf mit stagnierenden Umfragewerten zu einem Heimspiel angetreten. Direkt vor der Bühne, wo die Spitzenkandidat*innen Alice Weidel und Tino Chrupalla erwartet werden, bekommt man von der Gegendemo kaum etwas mit.
Vor der AfD-Tribüne auf dem Marienplatz der Altstadt von Görlitz ist es proppevoll. Ein Polizist schätzt die Kundgebung später auf 500 Personen, Masken trägt niemand. Als von der Bühne gesagt wird, dass ein Abstand von 1,5 Metern eingehalten werden solle, wird nur verächtlich gelacht.
Gekommen sind, abgesehen von den Thor-Steinar-Stiernacken und einigen Jungalternativen mit strammem Scheitel, überwiegend bürgerlich aussehende Leute. Die meisten sind zwischen 40 und 70 Jahre alt, tragen Funktionskleidung oder Camp David-Sachen. Männer sind in der Überzahl, aber es sind auch Omis mit Föhnfrisuren gekommen und sogar jüngere Pärchen mit Kindern, die AfD-Werbeartikel herumtragen. Man grüßt sich, macht Fotos für den Whats-App-Status. Vor der AfD-Bühne in Görlitz trifft sich ein Querschnitt der Bevölkerung.
Ein Tabu ist es hier in Görlitz nicht, auf dieser Kundgebung zu sein. Kein Wunder: Der Wahlkreis ist einer von dreien, den die AfD bei der vergangenen Bundestagswahl direkt gewonnen hat. Damals setzte sich Tino Chrupalla gegen den CDU-Kandidaten Michael Kretschmer durch, der mittlerweile Ministerpräsident in Sachsen ist. Nach einer aktuellen Umfrage ist die AfD sogar in ganz Sachsen stärkste Kraft, ähnliches könnte auch in Thüringen oder Sachsen-Anhalt passieren.
Tags zuvor war Chrupallas CDU-Gegenkandidat aus dem Wahlkreis hier, Florian Oest, zusammen mit Kretschmer und Friedrich Merz. Es wurde ein Reinfall: Sie wurden von Rechtsextremen der „Freien Sachsen“ ausgepfiffen und bepöbelt.
Chrupalla dagegen wird freundlich empfangen: Hier kommt der ehemals selbstständige Malermeister mit seiner Inszenierung als bodenständiger Handwerker an – trotz seines 7er BMWs als Dienstwagen. Und ob Chrupalla ein Gedicht rezitieren kann, interessiert hier niemanden. Die Menge vor der Bühne buht oder jubelt während Chrupallas Rede aufs Stichwort.
Am meisten Applaus bekommt der 46-Jährige immer dann, wenn er im Sound des vorgeblich aufgelösten, rechtsextremen Flügels spricht. Etwa, wenn er fordert, das Asylrecht abzuschaffen oder Staatsschulden tilgen will, indem „Asylanten“ keine Transferleistungen mehr gezahlt werden. Und natürlich, als er den CDU-Ostbeauftragten der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, „den Ostbeschimpfungsbeauftragten“ nennt. Wanderwitz steht für eine konfrontative Abgrenzung gegen AfD-Wähler*innen und ist eine Reizfigur in der extremen Rechten.
Der Auftritt in Görlitz könnte glatt darüber hinwegtäuschen, dass es für die AfD in diesem Wahlkampf alles andere als gut läuft. Die rechtsradikale Partei stagniert gegenüber den 12,6 Prozent bei der Bundestagswahl 2017 auf 10 bis 12 Prozent. Die AfD hat in diesem Wahlkampf kein Gewinnerthema wie die Flüchtlingspolitik nach 2015. Die Partei ist nicht im Fokus der medialen Aufmerksamkeit und dringt außerhalb ihrer eigenen Facebook-Bubble kaum durch.
Auf Themen wie die Klimakrise, Wohnungsnot und Corona hat sie keine ernstzunehmende Antwort und erreicht nur ihre radikalisierte Kernwählerschaft – trotz verordneter Selbstverharmlosungskur gemäß des Wahlkampfslogans „Deutschland. Aber normal.“ Vielleicht ist das auch der Grund, warum sie nicht vom Schmelzen der CDU profitieren kann.
Beunruhigend bleibt bei alledem, dass die AfD trotz mäßiger Performance ihrer Spitzenkandidat*innen in den Umfragen noch immer zweistellig ist. Die AfD hat eine Stammwählerschaft, die nicht von ihr abzurücken scheint. Egal, wie weit sich die Partei noch radikalisiert, wie sehr innerparteiliche Grabenkämpfe toben, in wie vielen Bundesländern der Verfassungsschutz sie als rechtsextrem einstuft und wie viele Spendenskandale noch aufgedeckt werden.
Auf dem Marienplatz in Görlitz verfängt sich sowieso jedes Thema: Auch Weidel erntet viel Applaus mit einer eher kurzen Rede. „Nie mehr Lockdown“ forderte sie und „Hände weg von unseren Kindern“. Beim Wahlkampfauftakt in Schwerin vor ein paar Wochen hatte sie noch von ihrer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft geredet – das war beim Publikum nicht besonders gut angekommen. Den Teil ließ sie dieses Mal weg.
Chrupalla legte zur Corona-Politik nach: Er warf der amtierenden Bundesregierung vor, eine kollektive und multimediale „Angstindustrie“ zu befeuern – „mit dem Panikorchester Drosten und Lauterbach“. Der mutmaßliche Mord eines offenbar rechtsextremen Querdenkers in Idar-Oberstein kam zu keinem Zeitpunkt zur Sprache – stattdessen fabuliert Chrupalla von Milliarden, die im Kampf gegen Rechts für „Taugenichtse“ aus linken Vereinen verschwendet würden.
Am Ende seiner Rede feiert ihn das Publikum mit „Tino, Tino, Tino“-Sprechchören. Interviews will er heute keine geben. Dafür bilden sich nach dem Auftritt Menschentrauben, die mit Chrupalla und Weidel Selfies machen wollen.
Man merkt, dass sowohl Weidel als auch Chrupalla sich im Spektrum des völkischen Flügels zuhause fühlen. Im Osten dominiert die rechtsextreme Parteiströmung die Landesverbände. Den Thüringer Landeschef Björn Höcke darf man einen Faschisten nennen – und er hat maßgeblich Einfluss auf das im Frühjahr verabschiedete radikale Parteiprogramm genommen. Chrupalla war früher häufig bei Pegida und gab dem extrem rechten Compact Magazin und dem Holocaust-leugnenden Youtuber Nikolai Nerling Interviews.
Entsprechend verwundert es nicht, dass die Forderung vom sächsischen Landeschef und Schlussredner Jörg Urban nach dem EU-Austritt Deutschlands ebenso mit Applaus quittiert wird wie die Forderung nach einer „nationalen Sozialpolitik“.
Den Sozialwissenschaftler und Rechtsextremismus-Experten David Begrich schockt der radikale Wahlkampfauftritt nicht mehr. Er sagt der taz dazu: „Hier muss die AfD keine Kreide fressen.“ Er zweifelt die These der Forschungsgruppe Wahlen an, deren Vorstand Matthias Jung vermutet, dass neben Wähler*innen mit geschlossenem rechtsradikalen Weltbild immer noch Protestwähler bei der AfD im Osten eine Rolle spielen, die sich durch taktisches Abstimmen einen wirtschaftlichen Vorteil wie die Angleichung von Löhnen und Renten erwarteten.
Angesichts des stabilen Niveaus der AfD im Osten hält Begrich das für fragwürdig: „Ein Großteil der AfD-Wähler wählt die Partei, weil sie dem Programm zustimmen“, sagt er. Ebenso dürfte nach seiner Einschätzung neben Rassismus die radikale Systemopposition ein Faktor für die Wahl der AfD sein.
Einen weiterer Grund könnte seiner Einschätzung nach die zunehmende lokale Verankerung der AfD ausmachen. Begrich lebt in Magdeburg, ist aber auch häufiger in Görlitz, wie er sagt: „Der Normalisierungsprozess der AfD im kommunalpolitischen Raum hat sich hier längst vollzogen.“ Nicht ohne Grund versuche Chrupalla, seine Herkunft aus der ostdeutschen Handwerkerschaft auszuspielen.
„Man muss dringend die Auseinandersetzung führen, wie man sich in Kreistagen und Stadttagen mit der AfD auseinandersetzen kann, ohne dass sie davon profitiert“, so Begrich. Weil man das in Vergangenheit nicht getan hat, werde man am Wahlsonntag wieder erleben, „wie alle geschockt auf die Wahlkreise in Sachsen starren werden.“
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde nachträglich geändert. Aussagen des Landtagsabgeordneten Sebastian Wippel waren missverständlich wiedergegeben worden.
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