Äthiopien im Umbruch: Man kann wieder frei atmen
Die politischen Häftlinge sind entlassen. Ein neuer Premierminister regiert. Der Rebell Jibril Ummar bleibt dennoch vorsichtig.
Die Ruhe ist wieder eingekehrt in einem der Zentren der Revolten gegen die autokratische Regierung der EPRDF, wie de regierende Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker abgekürzt genannt wird. Nach brutaler Gewalt mit Hunderten Toten und harter Repression wechselte die Partei Anfang April dieses Jahres ihren Vorsitzenden aus, der zugleich als Regierungschef der starke Mann Äthiopiens ist. Neuer Premierminister wurde der Reformer Abiy Ahmed.
Jetzt bestehen in dem brodelnden 100-Millionen-Land riesige Erwartungen, und das Reformtempo ist enorm. Zehntausende politische Gefangene sind frei, Hardliner der mächtigen Sicherheitsorgane pensioniert. Es gibt wieder eine freie Presse. Und am Sonntag reichte Abiy – in Äthiopien ist der erste Name immer der entscheidende – sogar dem Erzfeind Eritrea die Hand.
Diese Änderungen spürt man bei den Menschen. Sie sind heiterer als früher und sprechen lauter auf der Straße, in Kneipen und in den Parks. Es liegt eine ungewohnte Frühlingsstimmung über dem Land. Dabei hat Äthiopien keinerlei Erfahrung mit demokratischen Prozessen.
Etwa 20 Millionen Äthiopier leben in Armut – viel weniger als früher, nach Jahren des zweistelligen Wirtschaftswachstums, aber immer noch sind es 20 Prozent der Bevölkerung. „Die Mehrheit hat bis jetzt wenig vom Wachstum mitbekommen“, relativiert Ökonom Bisrat Teshome (35) in der Hauptstadt Addis Abeba. „Die Menschen wollen Demokratie, etwas, das wir in diesem Land kaum gekannt haben. Aber sie wollen auch ein besseres Leben.“
Der erfolgreiche Aufstand der Oromo
Gegen den Kurs der Regierung hatten vor allem die Oromo rebelliert, die größte Volksgruppe des Landes. In ihrer Region liegen die Hauptstadt Addis Abeba und auch die Stadt Adama. Ihr Aufstand gefährdete das Regime existenziell. Nun ist mit Abiy erstmals ein Oromo äthiopischer Premierminister.
„Qeerroo“ nennen sich die Oromo-Aufständischen, das Oromo-Wort für junge, energische und unverheiratete Männer. Einer von ihnen ist der 28-Jährige Jibril Ummar. Er handelt mit Computern und Mobiltelefonen. In einem Hotelgarten in Adama erzählt der stämmige junge Mann mit dem Körperbau eines Rugbyspielers beim Kaffee vom Aufstand – und von seinen Hoffnungen.
Ummar konnte sein Studium der Elektrotechnik nicht beenden, weil er wie so viele Aktivisten im Gefängnis landete, als die Armee damit begann, de Oromo-Proteste gegen Landnahme und Benachteiligung gewaltsam niederzuschlagen. „Seitdem haben ich reichlich neue Freunde, die ich im Kality-Gefängnis in Addis Abeba erstmals getroffen habe“, erzählt er. „Dort teilten wir Flöhe und Läuse, es war kalt, und wir litten an mangelnder medizinischer Versorgung. Das schafft eine enge Bindung.“
In Äthiopien sind etwa 65 Prozent jünger als 25 Jahre. An der Rebellion der Qeerroo waren auch viele Oberschüler beteiligt. „Diese Schüler waren schwer zu kontrollieren. Sie zerstörten regelmäßig das Eigentum von anderen Leuten, und gerade das wollte die Bewegung nicht“, sagt Ummar. Man habe öfters Zusammenkünfte organisiert, um die jungen Demonstranten zu Vernunft zu mahnen.
Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.
Die Heirat muss verschoben werden, Politik geht vor
Wer der Anführer der Qeerroo-Bewegung ist, bleibt bis heute ein Geheimnis. Die Mitglieder sind in Gruppen mit jeweils einem Leiter dezentral aufgeteilt. Sie konnten sich organisieren, obwohl die Regierung das Internet abgestellt hatte und Textnachrichten unmöglich machte. Ummar grinst: „Viele von uns wissen Bescheid über IT, und davon haben wir profitiert.“
Die Sonne ist herausgekommen und Jibril Ummar lädt zu einem Spaziergang durch das Städtchen ein. Es geht am imposanten Bogeneingang des Universitätsgeländes vorbei, wo die nun ehemaligen Demonstranten wieder Vorlesungen verfolgen. Auch in den Oberschulen sitzen die Protestler jetzt wieder in den Schulbänken.
Trotz großer Hoffnungen auf bessere Zeiten will Ummar noch nicht dem Wunsch seiner Eltern folgen und heiraten. „Ich muss der Politik genau folgen und habe keine Zeit für Ablenkungen“, sagt er. „Wenn es uns nicht gefällt, müssen wir nämlich zurück auf die Straße. Wir sind stolz auf unseren Bruder Abiy, aber wir können auch nicht vergessen, dass er Teil der autokratischen Regierungspartei war, die sich jetzt unter seiner Führung hoffentlich für immer ändert.“
Das baumreiche Adama ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die Straße nach Süden führt nach Kenia. Östlich geht es nach Dschibuti, dessen Hafen am Roten Meer von entscheidender Bedeutung für Äthiopiens Import und Export ist. Zahllose Lastwagen fahren über die Hauptstraße, Dutzende stehen geparkt. Auch die Lkw-Fahrer spielten ihre Rolle in der äthiopischen Revolte. Die Blockade der Öltanklaster auf dem Weg von Dschibuti nach Addis Abeba war wohl der letzte Anstoß für die politische Umwälzung. „Die Chauffeure haben gerne mitgemacht bei der Blockade. Wir brauchten sie kaum zu überzeugen“, lächelt Ummar.
Handgranaten gegen den neuen Regierungschef
Jibril Ummar lehnt die Frage nach einem Foto ab. Er zieht es vor, im Schatten zu bleiben. „Ich bin auch nicht auf Twitter und Facebook zu finden. Es reicht mir, dass die Qeerroo meiner Gruppe wissen, wie ich aussehe, und dass sie meine Telefonnummer kennen, falls Abiy uns enttäuscht oder seine Gegner versuchen, ihn zu stoppen“, sagt er.
Bei einer Regierungskundgebung Mitte Juni in der Hauptstadt flog eine Granate auf den neuen Premierminister. Abiy blieb unverletzt, aber zwei Menschen wurden getötet. Das Attentat macht deutlich, dass der junge Reformer noch gefährliche Feinde im Machtapparat hat.
Nicht nur die jungen Frauen und Männer, die unter Lebensgefahr auf den Straßen protestierten, schufen den Wandel. Auch zahlreiche Journalisten, Blogger und Internetaktivisten spielten hinter den Tastaturen ihrer Computer eine große Rolle. Viele kamen in Haft, andere flohen ins Ausland.
„Es gab überall Polizei und Armee auf der Straße. Jeder schaute über die Schulter, um zu sehen, wer mithörte“, erzählt Atnaf Berhane, ein bekannter junger Blogger, der im Kality-Gefängnis gesessen hat, über die alten Zeiten. Er sitzt entspannt auf einer Terrasse des Taitu-Hotels, des ersten und ältesten Hotels in Addis Abeba. In dem ein wenig verfallenen Bau aus dem Baujahr 1905 sammeln sich oft junge Aktivisten, trinken unendlich viel Kaffee und reden über Politik. Noch vor wenigen Monaten wäre das undenkbar gewesen.
Glitzernde Metropole und verarmte Bauern
Das freiere Klima in Addis Abeba folgt auf Jahre des Umbaus, die die einst beschauliche äthiopische Hauptstadt verwandelt haben. Die Stadt im zentraläthiopischen Hochland ist heute ein Dschungel von eng aneinander gebauten Glas- und Beton-Hochhäusern. Die neuen Hauptstraßen, gebaut vor allem von Chinesen, sind ständig verstopft. Zwischen Autos, Bussen und Fußgängern laufen Mehlsäcke transportierende Esel – sie wirken wie ein Relikt einer vergangenen Ära, die tatsächlich nicht lange vergangen ist.
Am Rande der Hauptstadt endet das Hochhausmeer abrupt in Äckern und Wiesen. Vor vier Jahren startete die Regierung eine umfangreiche Umwidmung von Ackerland für Industriegebiete und Wohngebäude. Die Bauern aus dem Oromo-Volk protestierten vergeblich: In Äthiopien gilt alles Land als Staatseigentum, die Landwirte haben nur ein Nutzungsrecht, das ihnen entzogen werden kann.
Studenten schlossen sich den Bauern an. Die großen Pläne für eine riesige Erweiterung von Addis Abeba verschwanden wieder in den Büroschränken, aber die Proteste hielten an und entwickelten eine Eigendynamik bis hin zum Machtwechsel.
Was sagen jetzt die Landwirte? „Unsere Proteste waren der Beginn der hoffnungsvollen Veränderung. Aber uns geht es nicht besser“, sagt der ehemalige Bauer Alemu Yirgu. Der 68-Jährige sitzt mit ein paar anderen Männern vor einer Reihe von Einzimmerhäuschen, gebaut aus Lehm und Stroh mit Wellblechdach, im Dorf Sefer Addis. „Mit der Entschädigung für die Enteignung unseres Landes konnten wir uns nur solche Wohnungen leisten.“
Mit 108 Millionen Einwohnernist Äthiopien, was die Zahl der Einwohner angeht, das zweitgrößte Land Afrikas (hinter Nigeria) und gehört zugleich seit Langem zu den Ländern mit dem höchsten Wirtschaftswachstum weltweit. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich in den letzten 30 Jahren verzehnfacht – auf immer noch nur 80 Milliarden US-Dollar. Sollte das jährlich zweistellige Wachstum andauern, wäre Äthiopien aber bald ein Wirtschaftsgigant.
Afrikas ältester unabhängiger Staat
ist das 4.000 Jahre alte äthiopische Kaiserreich, das sich als einziges Land Afrikas im 19. Jahrhundert erfolgreich der europäischen Eroberung widersetzte. Der letzte Kaiser Haile Selassie wurde 1974 von jungen Putschisten abgesetzt – die wurden wiederum 1991 von der bis heute herrschenden Rebellenkoalition EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker) gestürzt. Das EPRDF-Regime geriet in die Krise, nachdem 2012 sein Gründer Meles Zenawi starb.
Sefer Addis liegt am Ende einer Asphaltstraße, eine Siedlung für ehemalige Bauern, die der Modernisierung weichen mussten. Aus der lokalen Bar kommt laute traditionelle Musik, während auf dem Abfallhaufen gackernde Hühner nach etwas Essbarem suchen. In der Ferne ist die Skyline von Addis Abeba zu sehen.
Die Regierung übernahm die Äcker dieser Bauern für einen Investor, der einen großen Betrieb darauf baute. „Das passierte, kurz bevor die Demonstrationen begannen. Wir wagten es nicht, abzulehnen, sonst wären wir als unpatriotisch gebrandmarkt worden, weil wir die Entwicklung Äthiopiens stoppen würden“, sagt Dita Sebora, ein 48-jähriger ehemaliger Bauer. Er verbringt seine Tage in der Siedlung mit seinem jüngsten Sohn, während seine Frau in Addis Abeba putzen geht und das Einkommen der Familie verdient.
„Die Industrie verjagt die Landwirtschaft“, sagt der alte Alemu Yirgu. Die anderen Männer murmeln zustimmend. „Es ist gut, wenn wir Teller produzieren, aber darauf soll Essen kommen – und dafür haben wir gesorgt.“
Die ehemaligen Bauern, alle Oromo, freuen sich über die Veränderung im Land, aber sie werden Premierminister Abiy erst wirklich trauen, wenn er die kleine Entschädigung, die sie bisher bekommen haben, deutlich erhöht. „Wir hören und sehen gute Sachen, aber wir möchten selbst eine positive Änderung spüren“, meint Alemu Yirgu.
Ochsen ziehen den Pflug, Unkraut wird mit der Hacke entfernt, geerntet wird mit der Hand. Etwa 80 Prozent der Äthiopier leben von der Landwirtschaft, die oft noch sehr primitiv geführt wird. Meist wird die Ernte von der Bauernfamilie konsumiert, die wenigen Überschüsse gehen mit Pferd und Wagen oder auf dem Esel zum nächsten Markt. Diese uralte Subsistenzwirtschaft wird immer wieder von Dürren belastet – in diesem Jahr werden wohl acht Millionen Äthiopier auf staatliche Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein.
Für Äthiopiens Regierung hatte Industrialisierung lange Zeit Vorrang vor einer Modernisierung der Landwirtschaft. Diesen Kurs unterstützen auch junge Geschäftsleute wie Henok Gelatte, Inhaber des Plastikflaschenbetriebes „Aqua Plastic Business“. Das Werk des 32-Jährigen befindet sich in einem kleinen Industriegelände in einem Arbeiterviertel von Addis Abeba, wo es keine breiten Straßen gibt wie im Zentrum, sondern schmale Wege mit vielen Löchern. Hier und da sickert Regen durch das Fabrikdach.
„Wir müssen industrialisieren“, findet Henok Gelatte. „Das meiste, was wir im täglichen Leben brauchen, muss importiert werden. Wir sollten es selbst fabrizieren.“ Der junge Unternehmer hat Ringe unter den Augen nach einem Nachtflug aus China, wo er eine neue Maschine gekauft hat. „Ich bin nicht gut ausgebildet“, berichtet er. „Ich hatte kaum Startkapital, aber ich hatte Expertise. Das hat innerhalb von vier Jahren ein erfolgreiches Unternehmen ermöglicht“, sagt er sichtbar stolz. „Es war das vorige Regime, das mir auf die Beine geholfen hat.“ Die ersten fünf Jahre braucht er keine Steuer auf den Gewinn zu zahlen und kann investieren.
Gelatte war zwar solidarisch mit den Protestierenden, aber selbst ist er nicht auf die Straße gegangen. Er freut sich über die Veränderung der letzten Monate. „Aber nicht alles an der alten Führung war schlecht. Es gab einige gute Wirtschaftspläne. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob der ehemalige Militär Abiy auch eine gute Wirtschaftspolitik entwickeln kann.“
Der Anfang zu einem „neuen Äthiopien“ ist geschafft – aber die härteste Aufgabe, nämlich den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen, hat Abiy Ahmed erst noch vor sich. Ökonom Bisrat Teshome im Restaurant in Addis Abeba schaut um sich auf die vielen jungen Frauen und Männer, die konzentriert auf ihre Laptops schauen. „Abiy muss sehr viele Arbeitsplätze schaffen. Es gibt eine unendliche Zahl von jungen Menschen, die hoffen, dass er ihnen eine gute Zukunft bietet mit einem Job. Wenn nicht – dann können sie sich in eine Protestarmee verwandeln, die fähig ist, die Mächtigsten nach Hause zu schicken.“
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