Ärztliche Suizidhilfe: Im Grenzbereich des Lebens
Am Donnerstag stimmt der Bundestag über Suizidhilfe ab. Schafft es keiner der Entwürfe, brauchen Sterbewillige weiterhin Vereinsmitgliedschaften.
Oder das Ehepaar Ingeborg, 83, Hausfrau, und Sigurd Sch., 87, Buchdrucker. Sigurd Sch. ist nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und hat eine schwere Darmerkrankung. Seine Ehefrau leidet unter urologischen Problemen und Gleichgewichtsstörungen. Sigurd Sch. möchte sterben, seine Frau will mit ihm gehen. Ein Arzt leistet die Doppelbegleitung.
Die Fälle finden sich in einer Dokumentation der DGHS. Soll jeder ein Recht haben, sich Hilfe, auch ärztliche Hilfe, zur Selbsttötung holen zu können? Das Bundesverfassungsgericht hat das in seinem aufsehenerregenden Urteil vom Februar 2020 bejaht. „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“, heißt es in dem Urteil. Das Gericht hatte dem Gesetzgeber aber die Möglichkeit eingeräumt, „prozedurale Sicherungsmechanismen“ zum „Schutz der Selbstbestimmung“ zu schaffen.
Der Bundestag stimmt am Donnerstag über genau solche „Sicherungsmechanismen“ ab. Zwei konkurrierende Gesetzentwürfe zur Ausgestaltung der ärztlichen Suizidhilfe liegen vor. Wenn keiner der Entwürfe bei der Abstimmung durchkommt und alles so bleibt wie bisher, wird auch das die Praxis der Suizidhilfe prägen.
Im Zentrum steht, den freien Willen festzustellen
Die Gesetzentwürfe kommen aus Gruppen von Abgeordneten verschiedener Fraktionen. Beispielsweise finden sich grüne Abgeordnete sowohl im ersten als auch im zweiten Entwurf. Die Abstimmung erfolgt namentlich. Was beide Entwürfe gemeinsam haben, ist die Pflicht zur Beratung. Allerdings in sehr unterschiedlicher Ausprägung.
Der Gesetzentwurf einer Abgeordnetengruppe um den SPD-Politiker Lars Castellucci will die „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe, worunter man auch die wiederholte Suizidassistenz durch Ärzt:innen versteht, wieder unter Strafe stellen. Nicht strafbar ist die Suizidhilfe nur dann, wenn die Ärzt:innen bestimmte Regularien beachten.
Zu den Regularien gehört, dass sich jede und jeder Sterbewillige vorab zweimal einer „Untersuchung“ durch eine Psychiaterin oder einen Psychotherapeuten stellen muss, um auszuschließen, dass „keine die autonome Entscheidungsfindung beeinträchtigende psychische Erkrankung vorliegt“ und nach „fachlicher Überzeugung das Sterbeverlangen freiwilliger, ernsthafter und dauerhafter Natur“ ist, wie es im Gesetzentwurf heißt.
Im Zentrum dieser fachärztlichen Untersuchung stehe, den freien Willen festzustellen, und keineswegs gebe die Psychiater:in „eine Bewertung des Sterbewunsches ab“, sagt Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), die an dem Castellucci-Entwurf beteiligt ist, der taz. Mit der Verpflichtung zu zwei solchen Untersuchungen in einem Mindestabstand von drei Monaten wolle man vielmehr „einen sicheren Raum schaffen, in dem die suizidale Person mit einer unabhängigen dritten Person über ihre suizidalen Gedanken und die Lebensumstände, die zu diesen führen, sprechen kann“, erklärt Kappert-Gonther, „Suizidimpulse sind in der Regel volatil“.
Weil die ärztliche Suizidhilfe so wieder grundsätzlich unter Strafe gestellt wird, steht der Castellucci-Entwurf in der Kritik. Genau diese Strafbarkeit hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 für rechtswidrig erklärt.
Der zweite, liberalere Gesetzentwurf einer Abgeordneten-Gruppe um Renate Künast (Grüne) und Katrin Helling-Plahr (FDP) will die ärztliche Suizidhilfe nicht wieder grundsätzlich strafbar machen. Er beinhaltet aber ebenfalls eine Beratungspflicht, bevor ein Arzt ein Medikament zur Selbsttötung verschreiben darf. Die Sterbewilligen sollen bei unabhängigen „staatlich anerkannten“ Beratungsstellen, die auch bei freien Trägern eingerichtet werden können, vorstellig werden. Deren Mitarbeiter:innen können die Klient:innen auch zu Hause aufsuchen, falls diese nicht mehr mobil sind.
Klient:innen erhalten dann lediglich eine Bescheinigung, dass die Beratung stattgefunden hat. Die Stellen geben keine Bewertung oder Empfehlung ab. Nur wenn „begründete Zweifel“ daran bestehen, „dass die beratene Person ihre Suizidentscheidung aus autonom gebildetem, freien Willen“ treffen wird, hat die Beratungsstelle diese Zweifel auf der Bescheinigung zu vermerken, heißt es bei Künast/Helling-Plahr.
Zur Qualifikation der Mitarbeiter:innen der Beratungsstellen steht nichts Konkretes im Entwurf. „Zwar verlangt der Gesetzentwurf fachliche Qualifikationen der Mitarbeiter:innen in den Beratungsstellen. Deren genaue Ausgestaltung sowie die Einrichtung der Beratungsstellen obliegt jedoch den Ländern. Diese müssen auch die Zuverlässigkeit der Stellen überprüfen“, sagt Lukas Benner (Die Grünen), der an dem Entwurf beteiligt war.
Ärzt:innen dürften das tödliche Arznei- oder Betäubungsmittel laut Gesetzentwurf erst dann verschreiben, wenn nachgewiesen ist, dass Klient:innen zuvor bei einem Beratungsgespräch waren – sie also eine Bescheinigung vorgelegt haben.
Sowohl die Künast/Helling-Plahr- als auch die Castellucci-Pläne drängen auf eine Änderung im Betäubungsmittelgesetz. Konkret geht es um die Freigabe von Pentobarbital. Das Mittel gilt in der Suizidhilfe als relativ sicher und darf in der Schweiz regelmäßig von Ärzt:innen dafür verschrieben werden.
Der Künast/Helling-Plahr-Entwurf sieht außerdem Unterstützung für Suizidwillige vor, die vergeblich nach einem Arzt suchen. So heißt es, die Bundesländer sollen nicht nur staatlich anerkannte Beratungsstellen, sondern zusätzlich eine „nach Landesrecht zuständige Stelle“ einrichten, die eine einer „ärztlichen Verschreibung gleichstehende Erlaubnis“ zum Erwerb eines tödlichen Medikaments erteilen kann.
„Dies greift in Fällen, in denen Suizidwillige sonst keinen Arzt finden, der die Suizidassistenz leistet“, sagt Benner. Fraglich ist, ob die Länder bei diesen Plänen mitspielen. Das Gesetz ist zustimmungspflichtig im Bundesrat.
Der Künast/Helling-Plahr-Entwurf will eine Übergangsfrist von zwei Jahren für den Aufbau der Beratungsstellen. In dieser Zeit können Ärztinnen und Ärzte, die nicht direkt an der Suizidhilfe beteiligt sind, die Beratungen übernehmen.
Die Vereine, die bisher ärztliche Suizidhilfe vermitteln – also die DGHS, der Verein Sterbehilfe und Dignitas – befürchten nicht, dass die Beratungspflicht ihre Arbeit einschränken würde, käme der Künast/Helling-Plahr-Entwurf durch. „Sollte der vorliegende liberale Gesetzentwurf bei der Abstimmung im Bundestag am 6. Juli die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten, wovon ich ausgehe, so tangiert dieses Gesetz nach meiner Rechtsauffassung nicht die derzeitige Praxis der DGHS“, sagt DGHS-Präsident Robert Roßbruch.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die mit dem Verein kooperierenden Ärzt:innen verwenden für die Suizidassistenz ein Narkosemittel, das in Deutschland nicht verboten ist. Die Beratungspflicht dürfte bei dieser Praxis entfallen, da es sich ja nicht um eine Verschreibung handelt, sondern um eine Anwendung vor Ort im Beisein des Arztes.
Doch am liebsten wäre es den Vereinen, die ärztliche Suizidhilfe vermitteln, wenn keiner der Gesetzentwürfe im Bundestag eine Mehrheit fände. Dann würde alles so bleiben wie bisher.
Menschen ohne Mitgliedschaft in einem Verein oder persönlichen Kontakten zu Mediziner:innen, die Suizidhilfe leisten, hätten in dem Fall jedoch weiterhin Schwierigkeiten, bereitwillige Ärzt:innen zu finden, die auch noch über die nötigen Kenntnisse verfügen. Und: Mediziner:innen agieren keineswegs in einem rechtsfreien Raum. In Berlin ist ein Arzt wegen Totschlags angeklagt, weil er Suizidhilfe bei einer psychisch kranken Frau leistete. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft habe die ihre Entscheidung nicht freiverantwortlich treffen können.
Ein Fünftel gibt „Lebenssattheit“ als Motiv an
Die Vereine haben in der Regel eigene Absicherungssysteme, um die freie Entscheidungsfähigkeit ihrer Klient:innen festzustellen. Sie lassen sich Krankenakten kommen und führen diverse Vorgespräche mit den Suizidwilligen, um sich über deren Motive wirklich sicher zu sein. Eine längere Mitgliedschaft in den Organisationen ist Voraussetzung, die Suizidhilfe kostet ab 4.000 Euro aufwärts.
In einer Gesellschaft der Langlebigen und Hochaltrigen nimmt der Wunsch zu, sich für den Fall einer Krankheit oder Gebrechlichkeit einen Notausgang zu sichern. „Unsere Mitgliederzahl liegt derzeit bei knapp 29.000“, sagt Roßbruch, „aber nur ein kleiner Bruchteil unserer Mitglieder stellt tatsächlich einen Antrag auf Vermittlung einer Freitodbegleitung.“
Für fast ein Fünftel der Suizidenten wird in der DGHS-Statistik das Motiv der „Lebenssattheit“ angegeben, das vor allem auf sehr alte Menschen zutrifft und etwa aus einer Kombination aus Partnerverlust, wachsenden Einschränkungen, mehreren Krankheiten und Angst vor zunehmender Pflegebedürftigkeit besteht.
Von dem befürchteten „Dammbruch“ nach dem Verfassungsgerichts-Urteil vor drei Jahren kann aber keine Rede sein. Die DGHS und der Verein Sterbehilfe vermittelten im Jahr 2022 in insgesamt 366 Fällen eine Suizidhilfe mit Medikamenten. Die Zahlen steigen zwar, bleiben aber im Vergleich zu den sogenannten „harten“ Suiziden sehr niedrig: Im Jahr 2021 haben sich mehr als 9.000 Menschen in Deutschland ohne ärztliche Hilfe das Leben genommen, meist auf gewaltsame Art.
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, anonym. Rufnummern: (0800)1110111 und (0800) 1110222.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene