Ärztin Held über Einsätze im Mittelmeer: „Die Toten trieben im Wasser“
Barbara Held arbeitet eigentlich als Ärztin auf einem Kreuzfahrtschiff. Für zwei Wochen wechselte sie auf die „Sea-Watch 2“, um Flüchtende zu retten
taz: Frau Held, wieso haben Sie sich für einen Einsatz auf einem Seenotrettungsschiff entschieden?
Barbara Held: Ich erfuhr von einer Freundin von der „Sea- Watch 2“ und habe mich sofort beworben. Kurz danach kam die Bestätigung, dass sie mich gerne nehmen.
Wie wurden Sie vorbereitet?
Wir haben ein Anschreiben bekommen mit Tipps, welche persönlichen Gegenstände wir mitnehmen sollen, die helfen, schöne Eindrücke schneller abzurufen, wenn es uns schlecht geht. Es gab eine Telefonkonferenz, wo uns allen klipp und klar mitgeteilt wurde, mit was für Situationen wir rechnen müssen. Dann wurde uns die Gelegenheit gegeben, einen Rückzieher zu machen. Am Basiscamp auf Malta hat uns kurz vor dem Einsatz noch ein Traumatherapeut speziell vorbereitet.
Wie haben Sie sich persönlich mental vorbereitet?
Ich habe als Notärztin schon viele Schwerstverletzte und Tote gesehen. Das hat mich nicht geschreckt. Ich habe aber befürchtet, dass ich mit schweren Verletzungen zu tun bekomme, mit denen ich mich gar nicht auskenne.
Wie lange waren Sie unterwegs?
Alle zwei Wochen wird die Crew – wenn auch nicht komplett – gewechselt. Wir waren insgesamt zehn Tage auf See und mussten etwas früher zurück, weil das Wetter sehr stürmisch war. An fünf Tagen hatten wir Einsätze, manchmal mehrere am Tag.
Wie groß war die Crew?
49, Ärztin, wohnt in Hamburg. 2014 gab sie ihre Praxis auf und arbeitet seitdem als Schiffsärztin. Im Mai war auf der "Sea-Watch" im Mittelmeer vor der libyschen Küste unterwegs, um Flüchtenden zu helfen.
Wir waren 13 Personen. Darunter auch zwei Journalisten. Zwar hatte jeder seine Aufgabe, aber letztendlich machen alle alles – notfalls auch Leichen aus dem Meer ziehen. Wir haben auch alle das Boot abwechselnd gesteuert, und bei den medizinischen Notfällen haben auch unsere Anwältin und der Maschinist mit angepackt.
Sie hatten eine Anwältin dabei?
Ja, eine junge Italienerin. Sie hatte die Aufgabe, mit der italienischen Seenotrettungsgesellschaft zu kommunizieren. Zwar ist es nach internationalem Seerecht Pflicht, sich um Schiffbrüchige zu kümmern. Doch in der Praxis muss man auf die Kapitäne der Schiffe, die in der Nähe sind, oft Druck aufbauen, damit sie auch wirklich helfen.
Wie ging es dann los?
Wir sind von Valletta aus 26 Stunden in Richtung der libyschen Küste gefahren. Als wir das Gebiet erreichten, in dem wir Flüchtlingsboote erwarteten, schipperten wir an der 24-Seemeilen-Grenze, wo das internationale Gewässer beginnt, die Küste rauf und runter und hielten Ausschau. Mitunter schaukelte das Schiff so, dass selbst das Kaffeetrinken anstrengend war. Zwei Tage lang blieb es ruhig.
Und dann?
Dann haben wir von der italienischen Seenotrettungsleitstelle einen Anruf bekommen, dass unweit von uns ein Flüchtlingsboot gesichtet wurde. Wir sind sofort hingefahren. Ich habe das Boot aus einiger Entfernung gesehen und dachte noch: Das ist ein kleines Boot, da sind höchstens 20 bis 30 Leute drauf. Es waren 125. Es ist für mich nach wie vor nicht vorstellbar, wie die da alle draufpassten. Jeder hatte eine kleine Flasche Wasser dabei, die Männer pinkelten über den Rand, die Frauen saßen in der Mitte und pinkelten irgendwann in die leeren Flaschen. Die meisten Flüchtlinge wirkten gesund und stabil.
Was konnten Sie für die Menschen tun?
Wir haben sie mit Rettungswesten ausgestattet. Und sie haben uns einen zweijährigen Jungen übergeben. Er atmete flach und rasselnd, war ausgetrocknet, fieberte langsam auf und war völlig unterzuckert. Ich hatte Angst, dass er stirbt. Das war die erste große medizinische Herausforderung. Schließlich hat ein Schiff von Ärzte ohne Grenzen den Jungen und die anderen Flüchtlinge aufgenommen.
Wie verlief der nächste Einsatz?
Beim zweiten Einsatz hatten wir auch gerade ein Boot mit 127 Menschen an Bord versorgt, die schon deutlich länger auf See und viel erschöpfter waren. Während wir auf ein Boot warteten, dass die Schutzbedürftigen aufnehmen konnte, mussten mein Kollege und ich ganz viele Frauen versorgen, die in der Mitte des Bootes gesessen hatten, um besser geschützt zu sein. Dort aber war Öl oder Benzin ausgelaufen. Viele hatten darum am Gesäß oder an den Beinen großflächige Verätzungen. Wir haben unser gesamtes Verbandsmaterial verbraucht. Auf einen solchen Großeinsatz war die „Sea-Watch 2“ nicht eingestellt.
Auch nicht darauf, so viele Flüchtlinge aufzunehmen, oder?
Die „Sea-Watch 2“ ist für höchstens 30 Personen zugelassen. Geplant war, Flüchtlinge im Mittelmeer aufzuspüren und sie mit Rettungswesten, Rettungsinseln, Wasser und Zuckerlösung zu versorgen, bis ein Boot kommt, das sie an Bord nehmen kann. Nur Menschen, die medizinische Behandlung brauchen, sollten zu uns an Bord kommen.
Aber es kam anders?
Noch während wir auf ein Schiff warteten, dass die Flüchtlinge aufnehmen konnte, wurden wir zum nächsten Einsatz gerufen. Dort war zwei Stunden zuvor ein Boot gekentert. Wir konnten die Flüchtlinge nicht alleine lassen, aber auch nicht bei ihnen bleiben. Unsere Kapitänin hat spontan entschieden: Wir nehmen alle 127 Menschen auf und fahren zu dem gekenterten Boot.
Was für ein Bild bot sich Ihnen dort?
Als wir ankamen, sahen wir schon das sinkende Boot, dessen Reling noch aus dem Wasser ragte. Auf dem Bootsrand saßen noch Flüchtlinge und hielten sich fest. Alle Menschen, die im Unterdeck waren, waren ertrunken. Viele Leichen schwammen in der Mitte des Bootes, viele trieben im Meer. Wir haben geholfen, die Lebenden auf das bereits eingetroffene Boot der Küstenwache zu bringen und die Toten aus dem Wasser zu ziehen. Die hundert Leichensäcke, die wir an Bord hatten, waren am Ende des Einsatzes aufgebraucht.
Welche Bilder prägen sich ein?
Ich habe mit den Flüchtlingen an Bord gestanden und wir haben die Toten im Wasser treiben sehen. Irgendwann entdeckte ich etwas ganz Buntes, was ich für Müll hielt. Als wir uns näherten, erkannte ich, dass dort eine Frau trieb, die ein ganz buntes Kleid trug. An ihrer Seite trieb ein Bündel, dass in den gleichen bunten Stoff gehüllt war – ihr Kind. Ein Paar hatte sich an einem Seil aneinander festgebunden und trieb leblos im Wasser. Ich musste sofort an das Paar in Pompeji denken, dass sich im Todeskampf aneinander klammerte. Zeitgleich fischte unser Erster Offizier zwei tote Kleinkinder aus dem Wasser. Das Bild von dem einen Kind ging um die Welt, bei dem zweiten Kind sah sich unserer Fotojournalist, der in den Krisenregionen der Welt eigentlich schon alles gesehen hatte, emotional nicht mehr in der Lage, auf den Auslöser zu drücken. Die Flüchtlinge um mich herum waren währenddessen ganz still.
Hat Sie da die Wut gepackt?
Ich kam nicht dazu, wütend zu sein, weil ich unsere Anwältin trösten musste, die schrie: „Was für eine Scheiße, jeden Tag verrecken hier völlig unnötig Leute.“ Später haben wir noch ein paar persönliche Sachen der Gestorbenen aus dem Wasser gefischt. Wir fanden in einer Tasche Fotos, die die Geschichte eines Lebens erzählten, das nun nicht mehr weiter geht.
Die Wut kam also erst später?
Ich bin viel rumgereist und wurde überall besser behandelt als diese Menschen. Das finde ich sehr traurig. Für uns Deutsche ist es ja ganz natürlich, in ein anderes Land zu gehen, wenn wir hier nicht den Studienplatz unserer Wahl oder einen geeigneten Arbeitsplatz bekommen.
Aber die Vielzahl der Geflüchteten hat Deutschland im vorigen Jahr an seine Grenzen gebracht – so nehmen es zumindest hier viele Menschen war.
Die Aufnahme und Integration so vieler Flüchtlinge ist sicher eine Herausforderung. Aber bei den Menschen, die schon unterwegs sind, haben wir alle eine moralische Verantwortung. Wir müssen allen helfen, ohne ihre Fluchtgründe zu bewerten. Für uns Ärzte ist es ganz normal, allen zu helfen, egal ob sie an ihren gesundheitlichen Problemen selber schuld oder krankenversichert sind. Wir helfen nicht nur Menschen, bei denen es sich auszahlt.
Wollen Sie Ihren Einsatz wiederholen?
Ja, Ende Oktober. Bis dahin arbeite ich wieder als Schiffsärztin auf einem Kreuzfahrtschiff.
Das ist ja ein gewaltiger Kontrast.
Ja. Auf einem Kreuzfahrtschiff ist es absolute Normalität, dass man schon bei kleinsten Problemen sofort eine gute medizinische Versorgung einfordern kann. Bei den Flüchtlingen geht es lediglich um absolute Notversorgung. Um eine Verletzung, um die sich auf dem Kreuzfahrtschiff ein ganzes Ärzteteam bemüht, kümmert sich auf der „Sea-Watch 2“ der Maschinist, weil die wenigen Mediziner schlimmere Wunden versorgen müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste