Änderung des EU-Asylrechts: Einig und doch nicht
Kann das umstrittene EU-Asylrecht bis zur Europawahl 2024 in Kraft treten? Schon jetzt ist klar, dass einige Hürden warten.
Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, kann die Kritik an der Einigung in Teilen nachvollziehen. „Das ist sicher kein Kompromiss, der uns in allen Punkten gefällt“, sagt die SPD-Politikerin der taz. „Aber er hilft uns, die derzeitigen Probleme zu lindern, das heißt das Sterben im Mittelmeer, die Pushbacks und die unhaltbaren Zustände in Lagern wie Moria zu beenden“, so Barley weiter.
Die derzeitigen Probleme entstünden auch, weil die EU-Aufnahmeländer, in denen die Geflüchteten ankommen, mit der Situation weitgehend allein gelassen wurden. Die Reform setzt hier an: Anstatt dass Menschen jahrelang in unhaltbaren Zuständen wie in Moria leben, gebe es nun die „Perspektive, dass sie maximal 12 Wochen in einem Lager leben und dort die Chance auf ein ordentliches Asylverfahren haben“, meint Barley.
Deutschland hatte sich in den Verhandlungen dafür eingesetzt, dass betroffene Familien mit minderjährigen Kindern von Schnellverfahren an den Außengrenzen ausgenommen werden. Doch diese Position hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Ende geräumt – was nicht nur Grüne, sondern auch viele Sozialdemokraten ärgert.
„Es war leider nicht zu erwarten, dass eine Mehrheit der Länder diesem Vorschlag folgen würde, da nicht mal eine Handvoll ihn unterstützte“, sagt Barley. „Wir werden uns aber im EU-Parlament dafür einsetzen, dass Familien mit Kindern keine Schnellverfahren in Grenzlagern durchlaufen müssen, und sind zuversichtlich, dass wir eine Mehrheit dafür bekommen.“
„Mehrheitsverhältnisse kippen gerade nach rechts“
Wäre es vernünftiger gewesen, den Vorschlag der EU-Kommission ganz abzulehnen und auf weitere Verhandlungen zu setzen? Barley hält das für illusorisch. „Die Mehrheitsverhältnisse in der EU kippen gerade nach rechts“, sagt sie. Innerhalb eines Dreivierteljahres gab es allein drei Machtwechsel, bei denen eine rechtspopulistische Partei an die Regierung kam: in Schweden, in Finnland, in Italien. „Unter diesen Umständen ist nicht zu erwarten, dass die Ausgangslage für eine weniger rigide Lösung sich absehbarer Zeit verbessert.“
Das Europaparlament hatte seinen Standpunkt zum Asyl- und Migrationspaket bereits im vergangenen April festgelegt. Der Rat, die Vertretung der 27 EU-Staaten, geht erst jetzt an den Start. Die Verhandlungen, die in der kommenden Woche im sogenannten Trilog beginnen (die dritte Partei ist die EU-Kommission), finden hinter verschlossenen Türen statt. Sie können sich über Monate hinziehen.
Die EU-Politiker in Brüssel hoffen, dass die endgültige Einigung auf einen Gesetzestext bis Anfang 2024 gelingt. So könnte das neue europäische Asylregime rechtzeitig vor der Europawahl im Juni 2024 stehen. Populisten und Nationalisten hätten keine Chance, mit dem Reizthema Migration Stimmung gegen die EU zu machen – das ist zumindest die Hoffnung.
Der Wahlkampf hat längst begonnen
Doch der Europawahlkampf hat längst begonnen. Und die ohnehin kaum vereinbarenden Positionen haben sich nach dem Kompromiss der Innenminister weiter verhärtet. So haben Ungarn und Polen erklärt, dass sie den Kompromiss nicht mittragen werden. Vor allem die darin vorgesehenen Ausgleichszahlungen für nicht aufgenommene Migranten – im Gespräch sind 20.000 Euro pro Kopf – stoßen auf Widerstand.
Polen nannte diesen Solidaritätsmechanismus „absurd“. Sein Land habe die größte Flüchtlingskrise nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich bewältigt, erklärte Warschaus Europaminister Szymon Szynkowski vel Sęk mit Blick auf die Aufnahme von 1,6 Millionen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. „Wir werden nicht akzeptieren, dass uns absurde Ideen aufgezwungen werden.“
Auch Italien könnte die Reform noch gefährden. Die rechte Regierung in Rom trägt den Asylkompromiss zwar mit. Regierungschefin Giorgia Meloni fordert jedoch einen Flüchtlingsdeal mit Tunesien, von wo zuletzt besonders viele Asylbewerber kamen. Sie möchte die meisten Migranten schnurstracks zurück nach Nordafrika schicken – und mahnt Hilfe der EU an.
In Brüssel nimmt man diese Forderung sehr ernst. Denn ohne Italien würde der gesamte Asyldeal platzen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen traf am Sonntag zu Gesprächen mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied in Tunis ein. Begleitet wurde sie von Meloni, aber auch vom niederländischen Premier Mark Rutte. Tunis machte dabei bereits im Vorfeld seine Position deutlich. Sein Land werde keine Grenzpolizei der EU sein, sagte Saied vor Ankunft des Trios.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken