: Adenauerallee 139, 53106 Bonn
■ Vor der Wahl hat Gerhard Schröder Briefe geschrieben: „Und weil wir unser Land verbessern wollen...“ Nun ist er Kanzler, aber das mit dem Verbessern hat er offenbar vergessen. Zehn GenossInnen wollen ihn erinnern und schicken „blaue Briefe“
Lieber Gerhard,
daß Du einmal Jungsozialist warst, das kann ich gar nicht mehr glauben. Zu nahe stehst Du heute dem Kapital. 16 Jahre lang hat uns der Dicke gepredigt: Wenn es den Kapitalisten gutgeht, geht es auch uns gut. Ich hatte gehofft, daß sich durch Deine Wahl zum Bundeskanzler an dieser Fehleinschätzung etwas ändert. Oskar Lafontaine, der linke Meinungsträger in unserer SPD, war ein Garant dafür. Schade, daß er nun die Flinte ins Korn geworfen hat. Ich habe gedacht, der Rahmen der SPD ist groß genug, damit Ihr beide Platz darin habt. Eure Brüderlichkeit, Eure Umarmungen habe ich für bare Münze gehalten. Für mich gibt es heute noch immer nur einen Gegner: den Kapitalisten. Du mußt wissen, mein Vater war linker Sozialdemokrat, bei uns im Wohnzimmer hing eine hübsche Schwarzweiß- Zeichung mit den Porträts von Bebel und Liebknecht, ich bin 1926 in die Sozialistische Arbeiterjugend und drei Jahre später in die SPD eingetreten, ich war im KZ, verurteilt wegen Hochverrats. Nach der Hitlerdiktatur haben wir für den Wiederaufbau eines demokratischen, sozialen Staates gekämpft, für eine dem Gemeinwohl dienende bedarfsdeckende Volkswirtschaft ohne Kriegsindustrie. Aber es kam anders. Mit der sogenannten sozialen Marktwirtschaft und den Leistungsgesellschaftsmethoden setzen die Kapitalisten rücksichtslos ihre reaktionären Mittel ein. Ich bin enttäuscht, daß Du, Gerhard, sie dabei unterstützt. Dennoch: Du gehörst in die SPD. Aber ich meine, Du solltest nicht unser Parteivorsitzender werden.
Gustav Andersdotterson, 87, Rentner, Ahrensburg
Lieber Gerhard,
Samstag, 16. Januar, Fußgängerzone Wiesbaden. Unter der Parole „Ja zur Integration – Nein zur doppelten Staatsangehörigkeit“ ist der von der CDU organisierte Aufmarsch gegen die geplanten Einbürgerungserleichterungen der in Deutschland lebenden Ausländer in vollem Gange. Selbst die Infostand-Erfahrensten unter uns sind entsetzt: Besorgte Bürger, Uninformierte, Aufgehetzte, Ewiggestrige – nur wenige sind zu einem sachlichen Gespräch bereit. „Wo können wir gegen die Ausländer unterschreiben?“ so die häufigste Frage. Das Ergebnis ist bekannt. Die CDU gewinnt in Hessen, der Doppelpaß bleibt auf der Strecke. Mit dem rheinland-pfälzischen Kompromißmodell wird ein recht kleiner Schritt in die richtige Richtung gemacht, der zudem juristisch Fragen aufwirft. Fraglich ist allerdings, ob nach der Niederlage in Hessen noch mehr möglich ist. Was ich mir von Dir, Gerhard, nun wünsche? Dreierlei. Erstens: Bei sensiblen Themen und insbesondere dem Ausländerthema sind große Würfe gefährlich. Hätten wir mit dem Doppelpaß nur für Kinder begonnen, wären wir genauso weit wie bisher – ohne Hessen zu opfern. Zweitens: Der Grundgedanke, die Integration zu erleichtern, ist richtig. In einigen Jahren, wenn Erfahrungen mit der neuen Regelung vorliegen, gilt es, weiterzugehen. Drittens: Hunderttausende haben bei der CDU unterschrieben. „Für die Integration“ wie der erste Teil des Textes lautete. Daran sollten wir die christlichen Demokraten erinnern – und konkrete Integrationsvorschläge einfordern.
Marco Pighetti, 35, Stadtverordneter, Wiesbaden
Lieber Gerhard,
möchtest Du eine Karriere als Dressman starten oder endlich beginnen unser Land zu regieren? Wenn Du schon schwarze Schafe suchst, war Oskar wohl der Falsche. Beginne mit dem Suchen auf seiten der „Grünen Regierungspartner“! Zu dem Rücktritt von Oskar möchte ich nur soviel sagen: Höchste Hochachtung vor seiner Konsequenz, aber sein Abgang war erbärmlich. Erbärmlich in dem Sinne, daß er es nicht einmal für nötig hielt, eine Erklärung abzugeben für diejenigen, die die Basisarbeit in den Ortsvereinen machen. Vielleicht, Bundeskanzler Schröder, denkst auch Du mal an diejenigen, die Eure Politik auf der Straße erklären müssen. Aber dies scheint Dir egal zu sein, Hauptsache, Deine Profilierungssucht wird täglich in irgendeiner Zeitung gestillt. Ich hoffe, nein, ich wünsche mir, daß Du endlich Deine Arbeit machst, wofür wir Dich gewählt haben. Denn sonst sehe ich für die Kommunalwahl bei uns im Saarland nichts Gutes auf uns zukommen. Die öffentliche Meinung, die noch vor Monaten positiv für die SPD war, ist mittlerweile nur noch verwirrt durch die Arbeit Deiner Regierung.
Thilo Knobe, 33, Vorsitzender Juso AG, Wehrden
Lieber Gerhard,
wie Du Dir vorstellen kannst, habe ich am vorigen Donnerstag abend einen Riesenschreck bekommen. Du fragst Dich, warum? Ich bin vor zweieinhalb Jahren in die SPD eingetreten, weil ich die Regierungspolitik der alten Koalition nicht mehr ertragen konnte. Nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen wurden bekämpft, während Großkonzerne und das damit verbundene Kapital Rekordgewinne feierten. Der Dax stieg, wenn eine Firma Massenentlassungen ankündigte. Einschnitte wurden nur bei denen gemacht, die keine Lobby hatten: bei den Arbeitslosen und ganz besonders bei den Langzeitarbeitslosen. Da ich selber einer von denen bin, sagte mir Euer Kurs und ganz besonders der Kurs von Oskar Lafontaine, dem „sozialen Gewissen unserer Partei“, sehr zu. Ich hoffte, endlich würde auch die Industrie in ihre soziale Pflicht genommen werden. Daß diejenigen, die gewohnt waren von der alten Regierung hofiert zu werden, ein furchtbares Wehgeschrei anstimmen würden, war uns allen klar. Abschließend, lieber Gerhard, möchte ich Dir sagen: Vergiß bitte nicht Deinen und Oskar Lafontaines anfänglichen Kurs und werde nicht zum Schmusekanzler für die Herrn Henkel und Hundt.
Michael Wilberz, 42, studierter Langzeitarbeitsloser, Radolfzell
Lieber Gerd,
manchmal sind Erfahrungen nicht billiger zu haben, auch wenn im Moment der Preis sehr hoch erscheint. Als früherer Weggefährte von Dir möchte ich Dir Mut machen, die Chance zu nutzen, nun eindeutige Weichenstellungen zur Reform der Politikfähigkeit der Partei und des Kurses der Bundesregierung zu unternehmen. Reiße entschlossen das Ruder herum, für den überfälligen Aufbruch aller gesellschaftlichen Gruppen, zur Reform von Wirtschaft und Gesellschaft unter Deiner Führung! Nur Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Wertschöpfung schaffen uns die Basis für Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Das erfordert einen radikalen Wandel unserer Partei, weg von den überholten Traditionalismen. Eine Regierungspartei, die erfolgreiche Wirtschaftspolitik betreiben will, muß zuallererst diese Kompetenz entwickeln, auch wenn das noch quer zu vorherrschenden traditionellen Befindlichkeiten geht. Dir, Gerd, möchte ich mit auf den Weg geben: So stark, wie Du jetzt bist, wirst Du künftig kaum sein.
Karl Nolle, 54, Unternehmer, Dresden
Lieber Gerhard,
es wird nicht leichter werden nach Oskars Rücktritt von allen Ämtern, aktiv Gleichstellungspolitik in Europa durchzusetzen. Wir wissen aber, daß Du den Weg freigemacht hast für einen formellen Frauenministerrat; wir wissen, daß Du der neuen Politik des Gender- Mainstreaming, also der Verankerung von Chancengleichheit in allen Politikbereichen, zustimmst. Wie immer aber steckt auch hier der Teufel im Detail. Und wir, die Frauen der SPD-Europafraktion, erwarten von Dir volle Rückenstärkung. Das Arbeitspensum noch unter Deiner Ratspräsidentschaft ist enorm: von Agenda 2000 über verbesserte Partizipation von Frauen im Arbeitsmarkt und in Führungspositionen bis hin zur Verabschiedung des Antigewalt-Programms „Daphne“. Aber wir brauchen auch einen Kanzler, der den Wunsch der Wählerinnen nicht aus den Augen verliert.
Lissy Gröner, 44, frauenpolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament
Lieber Gerhard,
nach der Bundestagswahl war Rot-Grün für viele Frauen eine Perspektive, mit der sie konkrete Vorstellungen verbanden: die Wahl von Frauen in Führungspositionen, Platz in der politischen Außendarstellung und ein Ende der unerträglichen One-Man-Show und des patriarchal-hierarchischen Machtbegriffs. Leider ist meine Erfahrung nach knapp sechs Monaten Regierung eine andere. Sie hat schon jetzt erste Opfer gefordert. Nicht eines der wichtigsten Ämter ist mit einer Frau besetzt. Auch das vorherrschende Verständnis von Macht schadet den Frauen. Ich bin damit sehr unzufrieden. Zwar erklärt der Koalitionsvertrag Gleichstellung zu einem Schwerpunkt, doch Regierung und SPD übergehen legitime Forderungen der Frauen. Dazu trägt auch Dein Eindruck in der Öffentlichkeit als medienerprobter Machtstratege bei. Ich möchte Dich bitten, vor der eigenen Tür anzufangen und kritisch über Dein Verständnis von Macht zu reflektieren – auch wenn bei der Besetzung der Spitzenfunktionen schon alles gelaufen ist. Gleichstellung bedeutet immer auch einen Machtverlust für Männer. Die Unzufriedenheit über die unerfüllten Forderungen der Frauen und vor allem der Sozialdemokratinnen wird irgendwann deutlich zutage treten. Es wäre bedauerlich, wenn ich mir eingestehen müßte, daß die Partei eher Rück- als Fortschritte gemacht hat. Die Menschen brauchen keinen Machokanzler, keinen starken Mann. Sie brauchen einen, der ihre Interessen vertritt. Für einen Sozialdemokraten muß das auch heißen: die Interessen der Frauen beachten.
Sonja Wild, 21, Studentin der Politologie, Nürnberg
Lieber Gerhard,
der Rücktritt von Oskar hat mich als Gewerkschafter tief betroffen gemacht. Mit ihm hat unsere SPD und die Regierung einen herausragenden Politiker verloren, der inhaltlich das Projekt verkörperte, wofür der Deutsche Gewerkschaftsbund vor der Bundestagswahl eingetreten ist – einen Politikwechsel für mehr Arbeit und soziale Gerechtigkeit, eine Politik, die dem herrschenden Wirtschaftsliberalismus Paroli bieten sollte. Inzwischen aber mache ich mir große Sorgen, daß das Trommelfeuer der Wirtschaftslobby und der konservativen Presse nachhaltig Wirkung zeigt; mache ich mir große Sorgen, daß die Regierungspolitik immer stärker dem Druck aus dem Unternehmerlager nachgibt. Als Gewerkschafter und Sozialdemokrat könnte ich einen solchen Kurswechsel nicht mittragen. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würde sich schnell von Dir als Kanzler und von Deiner Regierung abwenden, wenn sie feststellen müßte, daß ihre Interessen zu Gunsten einer „wirtschaftsfreundlichen Politik“ geopfert werden. Ich hoffe und erwarte von Dir, Gerhard, daß Positionen, wie Oskar sie verkörperte, in der Regierung und in unserer Partei auch zukünftig eine politische Heimat haben und Gehör finden. Ich bitte Dich deshalb nachdrücklich, auch nach dem Ausscheiden von Oskar aus der Bundesregierung eine Politik für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu betreiben.
Rainer Bliesener, 48, Vorsitzender des DGB-Landesbezirks Baden-Württemberg
Lieber Gerhard,
der Parteivorstand hat Dich für den Parteivorsitz nominiert. Vor Deiner Wahl im April also nutze ich die Gelegenheit, drei Wünsche an Dich zu äußern. Laß' Dich in dem Ziel – Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit und Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung – durch innerparteiliches Tauziehen nicht beirren. Beides, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung, bedingen einander. Zweitens: Die neuen Bundesländer benötigen noch lange die Solidarität der alten Länder, dazu gehört nicht nur der Solidarbeitrag. Die Sozialdemokratische Partei ist als einzige Partei in der Lage, die Vereinigung Deutschlands positiv zu vollenden. Gib' der Partei dazu neue Impulse! Und drittens: Laß' die Finger von der PDS. Die Mitglieder der umbenannten SED sind mehrheitlich noch nicht in unserem demokratischen Rechtsstaat angekommen. Das belegen gerade viele neuere Äußerungen. Die älteste demokratische Partei in Deutschland, also unsere SPD, darf der PDS nicht zur Machtbeteiligung in der Bundesrepublik verhelfen.
Helmut Fechner, 64, Mitglied des Gesprächskreises „Neue Mitte“, Berlin-Treptow
Lieber Gerhard,
ich wünsche mir, daß Du die Wirklichkeit westdeutscher Modefotografie nicht für die einzige Wirklichkeit in Deutschland hältst. Es gibt noch andere Wirklichkeiten, vor allem hier bei uns in Ostdeutschland. Und die haben nicht soviel mit Kaschmir-Mänteln zu tun, wie mancher im Westen vielleicht denkt. Natürlich wird sich die traditionsreiche deutsche Sozialdemokratie daran gewöhnen, daß sie jetzt von einem Dressman geführt werden soll. Sie hat auch nichts dagegen, es ist ja ein moderner Beruf. Und Dein Kaschmir-Mantel, Gerhard, steht Dir sehr gut. Aber vergiß nie: Moden kommen und gehen – die Sozialdemokratie bleibt bestehen. Und mit ihr die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Auf diesen Feldern wollen wir, die wir das Volk sind, Fortschritte sehen. Niemand hindert Dich jetzt.
Siegfried Friese, 55, Mitglied des Schweriner Landtages
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