Actionfilm „The 355“ mit Frauenbesetzung: Hijabs als Agentenuniform
Diese Agentinnen sind Vollprofis: „The 355“ stellt weibliche Varianten von Actionhelden vor. Regisseur Simon Kinberg gelingt eine gewisse Subtilität.
„Beim Bundesnachrichtendienst erwartet dich eine abwechslungsreiche Zeit mit spannenden Höhepunkten.“ Vielleicht hat Marie (Diane Kruger) diesen Satz auf der Homepage des BND ebenfalls gelesen – und sich gleich für die Ausbildung angemeldet.
Die anderen Frauen haben ihre Berufe vermutlich aus ähnlichen Gründen gewählt: die CIA-Agentin Mace (Jessica Chastain), die britische Computerexpertin Khadijah (Lupita Nyong’o), die kolumbianische Psychologin Graciela (Penélope Cruz), die noch nie im Außendienst war – das Leben als „international woman of mystery“, so wirkt es in Simon Kinbergs nach einem Drehbuch von Theresa Ribeck inszeniertem Agentinnenthriller „The 355“, wimmelt vor „abwechslungsreicher Zeit“ und „spannenden Höhepunkten“.
Die Anforderungen an den Job sind aber auch nicht ohne: Nerven aus Stahl, das Beherrschen mehrerer Sprachen, Prügelfestigkeit – auch in Abendgarderobe, Schießen wie die Kunstschützin Annie Oakley. Und dass Sentimente die Entscheidungen von hochdotierten Spioninnen nicht beeinflussen dürfen, versteht sich von selbst. Das gilt sogar für Mace, die soeben ein Techtelmechtel mit ihrem Kollegen Nick (Sebastian Stan) begonnen hat.
Formal ist „The 355“, benannt nach einer (angeblich) legendären US-amerikanischen Agentin mit dem Codenamen „355“, die der Spionageorganisation „Culper Ring“ angehörte, ein klassischer Actiongenrefilm, in dem sich internationale Mächte (die vier Frauen lernen nach einer Weile die mysteriöse Chinesin Lin, gespielt von Fan Bing Bing, kennen) wegen eines MacGuffins die Schädel einschlagen: Es geht um ein digitales „Device“, eine bildstark blinkende „Disk“, mit dem „böse Menschen“ die Computersysteme der Welt hacken können, wenn sie nicht von guten Geheimdiensten und ihren herausragend ausgebildeten Agent:innen daran gehindert werden.
„The 355“. Regie: Simon Kinberg. Mit Jessica Chastain, Penélope Cruz u. a. USA 2022, 123 Min.
Wie üblich ist dabei auch Korruption mit im Spiel. Und wie üblich agieren die Agenturen, Mächte und Gegenspieler in (durch fixes Flugzeughopping) gut erreichbaren mehreren Ländern und am liebsten bei „Black Tie“-Großveranstaltungen, zu denen sich die Beteiligten erst mal Zugang verschaffen müssen und nicht etwa, wie im echten Leben, schon am Gästelisten-Zerberus scheitern.
Von wegen „Drei Engel für Charlie“
Außergewöhnlich am Film sind also nicht Aufbau, Story oder Setting, sondern allein das Geschlecht der Handelnden: Kinberg und Ribeck erzählen weibliche Varianten von fiktiven Actionhelden wie James Bond oder Jason Bourne. Und versuchen dabei, die teilweise halbherzigen, teilweise sexistischen Versuche wie „Drei Engel für Charlie“ (Models in Bikinis oder Catsuits landen in den Actionszenen wackelig auf ihren Highheels), „Modesty Blaise“ (in der hanebüchen geplotteten, 1966er Version führt Monica Vitti vor allem großartige Outfits vor) vergessen zu machen.
Gleichzeitig ist „The 355“ trotz Choreos mit fliegenden Menschen und wuchtigen Tritten weniger brutal als der 2017 entstandene „Atomic Blonde“ mit Charlize Theron, an dessen Sequel gerade gearbeitet wird.
Spröde und schlagkräftig
Kinberg gelingt dabei tatsächlich eine gewisse Subtilität – wenn die Frauen sich etwa auf einem marokkanischen Marktplatz mit Hijabs unters Volk mischen, um jemandem die „Disk“ zu mopsen, starrt der Bestohlene danach konsterniert auf die vielen Kopftuchträgerinnen um sich herum – wer hätte geahnt, dass das muslimische Kleidungsstück sich so gut als Agentenuniform eignet. Und wenn die Agentinnen sich abends in der Bar entspannt über ihr „erstes Mal“ unterhalten, dann geht es nicht um Sex.
Überhaupt lassen Kinberg und Ribeck ihre Protagonistinnen nicht, wie sonst oft üblich, mit einer angeblich weiblichen Gefühligkeit hadern. Die Frauen, allen voran die spröde, aber schlagkräftige Marie, sind Vollprofis. „James Bond ist abends immer allein“, gibt Khadijah zwar irgendwann zu bedenken.
Etwas später stellt sich jedoch heraus, dass das in diesem Beruf die sicherste, wenn auch traurigste Variante ist. Wer niemanden hat, den kann man auch mit niemandem unter Druck setzen.
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