Abschiebungen nach Afghanistan: Weniger sicher geht nicht
Die Bundesregierung äußert sich verwirrend und hält sich nicht an die eigenen Kriterien. Andere EU-Staaten würden weitaus rigider abschieben.
In einem von Bundesinnenministerium und Auswärtigem Amt gemeinsam verfassten Brief an alle Bundesländer, der am Dienstag in Auszügen auf Spiegel Online veröffentlicht wurde, knickt die Regierung aber dann auch in Nuancen ein. Statt von „sicheren“ Gebieten (de Maizière) ist nur noch von „vergleichsweise ruhigen“ Regionen die Rede. Die Weigerung konkret zu benennen, wo sich diese Gebiete eigentlich befänden, und offenzulegen, worauf diese Einschätzung gründet, hält an.
Der geltende Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan von November 2016 ist zwar Verschlusssache, enthält aber trotzdem nur ganze 15 Zeilen zur Sicherheitslage. Sogar die fünf im 2015er Bericht genannten Provinzen mit „relativ sicheren“ Gebieten (aber eben nicht ganzen sicheren Provinzen) fielen heraus.
Weniger sicher kann sich die Bundesregierung kaum sein. Trotzdem soll der Bericht die Grundlage für gerichtliche Entscheidungen über Asylanträge und die Abschiebeentscheidungen der Länder bilden. Entweder stützt sich die Bundesregierung also auf andere, ihr vorbehaltene Quellen. Oder sie nutzt offen zugängliche Quellen, etwa Berichte der UNO aus oder vom European Asylum Support Office (EASO) der EU zu Afghanistan. Dann ist alles nur noch Sache der Interpretation von Fakten.
Im Brief an die Länder wird etwa aus der leicht gesunkenen Zahl in einer Kennziffer – der zivilen Todesopfer, um zwei Prozent, von 3.565 (2015) auf 3.498 (2016) – offenbar auf eine verbesserte Situation geschlossen. Bei den meisten anderen Kennziffern – von der erheblich gestiegenen Zahl der Binnenvertriebenen bis zu einem Viertel mehr toter Kinder durch Kämpfe – ist die Tendenz aber eindeutig negativ.
Was heißt sicher?
Und überhaupt: sicherer im Vergleich womit? Mit Syrien? Da kann man nicht widersprechen. Innerhalb Afghanistans aber gibt es nur mehr oder weniger unsichere Gebiete. In Bamian, einer Provinz, die die Bundesregierung 2015 für „vergleichsweise sicher“ hielt, ereigneten sich laut EASO in zwölf Monaten 29 „sicherheitsrelevante Vorfälle“ – von Sprengstoffanschlägen bis zu Gefechten und Luftschlägen. Die Südprovinz Helmand hatte 1.785. Bamian ist vergleichsweise sicherer. Aber sicher?
Außerdem hält die Bundesregierung sich nicht einmal an die eigenen Kriterien. Unter den 78 afghanischen Zwangsrückkehrern seit Dezember 2016 waren mindestens 44 aus Provinzen, die sie selbst nicht als sicher betrachtet.
Diese Details lassen den Mittwoch früh hereingekommene Tweet des baden-württembergischen Innenstaatssekretärs Martin Jäger („Fakten statt Emotionen und Hysterie“) zu bloßer Demagogie verblassen.
Hier spielt sich jemand als Afghanistan-Experte auf, der gerade mal ein Jahr lang deutscher Botschafter in Kabul war – kürzer als jeder andere seit 2001 –, von der afghanischen Wirklichkeit fast völlig abgeschottet, angewiesen auf sich selbst bestätigende Akteure im Resonanzraum der Kabuler Diplomatie, des Nato-Militärs und der an schlechten Nachrichten ebenfalls uninteressierten afghanischen Regierung – sowie auch nicht immer gut unterrichteter Nachrichtendienste, die sich schon beim Tanklaster-Bombardement in Kundus 2009 offenbar auch nur auf eine einzige Quelle stützten.
Der Brief der Bundesregierung an die Länder verweist darauf, dass andere EU-Mitgliedstaaten „in deutlich höherem Umfang“ nach Afghanistan abschieben, Norwegen sogar Frauen und Kinder.
Fazit: Die Bundesregierung denkt, sie verhalte sich „vergleichsweise human“. Aber human?
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