Abschiebungen an den Hindukusch: Sie sind in Gefahr
Einer Studie zufolge droht abgeschobenen Afghanen Gewalt. Doch das Innenministerium plant den nächsten Abschiebeflug nach Kabul.
Ungeachtet der eskalierenden Sicherheitslage in Afghanistan schiebt die Bundesregierung weiter Menschen in dieses Land ab. Am 8. Juni sei erneut ein Abschiebeflug vom Flughafen Halle-Leipzig nach Kabul geplant, teilten mehrere Flüchtlingsräte sowie Pro Asyl mit. Am Samstag protestierten Menschen in Leipzig sowie in mehreren anderen Städten in Deutschland bei Mahnwachen und Fahrraddemos gegen die Abschiebepraxis der Bundesregierung und der beteiligten Länder. Der „Aktionstag gegen Abschiebungen nach Afghanistan“ richtet sich auch an die Innenministerkonferenz, die am 16. Juni beginnt.
Wegen des Abzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan fordern die am Protest beteiligten Gruppen einen sofortigen Abschiebestopp und eine Neubewertung der Sicherheitslage. Laut Vereinten Nationen hat die sich in diesem Jahr noch einmal verschärft. „Auch diese bevorstehende Abschiebung nach Afghanistan ist Ausdruck des Bedürfnisses der Bundesregierung und der Länder, Handlungsfähigkeit und Konsequenz beim Thema Abschiebung zu beweisen“, kritisierte Conny Funke vom Leipziger Aktionsnetzwerk Protest LEJ. Ob solche Abschiebungen rechtlich und moralisch vertretbar seien, spiele dabei für sie keine Rolle.
Bislang rechtfertigt die Bundesregierung die Abschiebungen damit, dass die Sicherheit der Abgeschobenen nicht überall im Land gefährdet sei. Dass diese Einschätzung nicht der Realität vor Ort entspricht, legt eine aktuelle Studie nahe, die am vergangenen Freitag veröffentlicht wurde. Demnach drohe abgeschobenen Afghanen und deren Familien Gewalt, Diskriminierung und Stigmatisierung.
Die gescheiterte Flucht nach Deutschland mache die Menschen in den Augen von Extremisten zu Verrätern, so Studienleiterin Friederike Stahlmann von der Universität Bern: „Das besondere Problem der Abgeschobenen ist, dass sie Verfolgung, Gewalt und Diskriminierung von verschiedenen Seiten erfahren. Also von den Taliban aus politischen Gründen, aber auch aus dem sozialen Umfeld und aus der Öffentlichkeit.“ Den Rückkehrern fehle zudem das soziale Netzwerk, um in einem Land in der Krise überleben zu können.
Das Bundesinnenministerium zeigt sich uneinsichtig
Für die Studie im Auftrag von Diakonie und Brot für die Welt hat Stahlmann die Erfahrungen von 113 der 1.035 seit Dezember 2016 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen dokumentiert. Das Ergebnis: Die Mehrzahl verlässt Afghanistan wenig später erneut. 27 Prozent der untersuchten Fälle seien heute wieder zurück in Europa, 41 Prozent in umliegenden Ländern wie Iran, Pakistan oder der Türkei. Nur ein Befragter gab an, in Afghanistan bleiben zu wollen.
Die Präsidentin von Brot für die Welt, Dagmar Pruin, forderte das Auswärtige Amt auf, die Situation vor Ort endlich realistisch zu bewerten. In dessen Lagebericht von Juli 2020 heißt es: Dem Auswärtigen Amt seien „keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden“.
Das Bundesinnenministerium (BMI) machte am Freitag klar, dass es aus seiner Sicht keiner Neubewertung der Lage bedürfe. Gegenüber tagesschau.de teilte das BMI mit, dass im Rahmen des Asylverfahrens in jedem Einzelfall die individuelle Bedrohung unter Berücksichtigung regionaler und lokaler Gegebenheiten geprüft werde. Pauschale Aussagen zur Gefährdung Einzelner in Afghanistan ließen sich deshalb nicht treffen. Ähnlich äußerten sich auch der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Mathias Middelberg, und Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD).
Die Reaktion des Bundesinnenministeriums auf die aktuellen Entwicklungen sei unglaublich, kritisiert dagegen der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, in einer Mitteilung: „Anstatt realistisch die Situation in Afghanistan zu reflektieren, herrscht stoische Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Abgeschobenen.“
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