Abschiebung nach Italien: Wille zur Härte
Unterstützer vor Ort und der niedersächsische Innenminister wollen, dass Ben Bakayoko in Gifhorn bleiben kann. Das Bundesamt für Flüchtlinge bleibt hart.
Am vergangenen Montag klingelte es um 3 Uhr Morgens, die Polizei war da. Sie hätte es geahnt, sagt Stefanie, Bens Freundin: „Ich wusste, dass sie diese Nacht kommen würden.“ Ben lässt die vier Beamten in die Stube eintreten. Sie erfahren, dass Stefanie von Ben Bakayoko ein Kind erwartet. Er leidet außerdem unter den posttraumatischen Belastungsstörungen seiner Flucht, die ihn aus dem westafrikanischen Land Elfenbeinküste nach Norddeutschland führte. Ben zeigt ein ärztliches Attest und ein Gutachten zur Risikoschwangerschaft seiner Freundin. Der Einsatzleiter bricht die Abschiebung ab: Es scheint, dass er durch die Ausländerbehörde über die Lebensumstände des Geflüchteten nicht informiert wurde, vielleicht empfindet er Skrupel.
Seit mehr als zwei Jahren lebt Ben jetzt schon in Gifhorn. Nach einem Jahr in der Geflüchtetenunterkunft Clausmoorhof hat er nicht nur eine eigene Wohnung gefunden, sondern auch eine Praktikumsstelle beim Gifhorner „PC-Teufel“, einer Reparaturwerkstatt für Elektronikgeräte. Vermittelt hat sie ihm Manfred Torkler, der viele Jahre in der IG Metall aktiv war. Der Rentner engagierte sich im kirchlich organisierten Café Aller für Geflüchtete, gründete im September 2018 den Verein „Gifhorn hilft“.
Mit Manfred Torkler trifft sich Ben, wenn er frei hat. Um die Djembé zu trommeln oder um gemeinsam schwimmen zu gehen. Auch der Werkstattleiter von PC-Teufel, Erich Gliemroth, ist eine wichtige Bezugsperson für ihn geworden. Ben nennt ihn noch immer anerkennend „Chef“. Von mittags bis abends arbeitete er bei PC-Teufel, vormittags besuchte er den Integrationskurs, um Deutsch zu lernen. Stolz erzählt er, wie er die Sprachtests mit hohen Punktzahlen meisterte.
Einfach nur begeistert
„Ich bin von dem Mann einfach nur begeistert“, sagt Erich Gliemroth. Er sitzt im Geschäft, auf dem Tisch neben ihm liegt ein großer Flachbildschirm, dessen Rückseite geöffnet ist. Gliemroth ist ein lebensfroher Mann, der mit seinen Kunden gerne Späße macht und mit ihnen lacht, auch wenn sie nur gekommen sind, um ihr Hermes-Paket aus dem Geschäft abzuholen. „Wenn Ben gesagt hat, er ist um 12.30 Uhr da, dann war er da, immer.“ Ben habe gleich gewusst, wie man die Infrarotwellenlötstation bedient. Und er habe sofort erkannt, dass der Defekt eines Computers auf die Grafikkarte zurückzuführen ist.
Im ivorischen Youpogon, einem Stadtteil der Millionenstadt Abidjan, hat Ben gelernt, Computer zu reparieren – auf eigene Kosten, denn in der Côte d’Ivoire garantiert der Staat keine Lehrstelle. „Nach meiner Ausbildung habe ich eine kleine Firma geöffnet“, erzählt Ben. „Die war nicht groß, nur ein Raum. Ich habe Handys und Computer repariert, eigentlich alles, was kleine Elektronik ist.“
Von Rebellen missbraucht
Doch die Elfenbeinküste wird auch nach dem Ende des langjährigen Bürgerkriegs von gewaltsamen Konflikten heimgesucht, unter denen vor allem die Bevölkerung leidet. 2015 flüchtete Ben vor den Kriegszuständen in seinem Land, die ihn prompt wieder einholten: Als er Libyen erreicht, wird er von Rebellen in einem Camp bei Sabrata interniert. „Das war nicht einfach“, sagt Ben und hält inne. „Das war sehr, sehr schwer.“ Im Camp wurden Frauen und Männer von den Rebellen missbraucht, mit Waffen bedroht und zur Arbeit gezwungen. „In Libyen ist es ganz anders als in Gifhorn. Die verkaufen die Leute und sind aggressiv, egal wer du bist.“
In Gifhorn hat sich Ben ein geregeltes Leben und soziale Kontakte aufgebaut. Mit Hilfe von Gliemroth hatte Ben bei der Ausländerbehörde erst erfolgreich eine Arbeitserlaubnis beantragt, dann im Frühjahr 2018 einen Ausbildungsvertrag als IT-Systemkaufmann. Das ging, weil sein Anwalt 2017 ein Eilverfahren eingeleitet hatte. Durch das Eilverfahren würden die Dublin-Regeln, die Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse im Aufenthaltsland verbieten, außer Kraft gesetzt, erklärt Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen – sofern die Abschiebung auf unabsehbare Zeit ausgesetzt ist. Deshalb war es Ben auch erlaubt, an Integrationskursen teilzunehmen und Deutsch zu lernen, obwohl er bis heute nicht in das deutsche Asylverfahren übernommen wurde.
Doch am 30. August 2018 bricht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Braunschweig in sein neues Leben ein: Seine Klage gegen das Dublin-Verfahren wird abgewiesen. Weil Ben Bakayoko nach seiner Rettung durch ein Schiff der britischen Royal Navy im italienischen Brindisi an Land gelassen wurde, fällt die Zuständigkeit für sein Asylverfahren an Italien.
In Italien sind die Bedingungen schlecht für Flüchtlinge, sie bleiben weitgehend sich selbst überlassen. „Bis vor eineinhalb Jahren habe ich fast alle Italienfälle gewonnen“, sagt Bens Anwalt, Safak Esen, der auf Migrationsrecht spezialisiert ist. Deutsche Gerichte entschieden sich der humanitären Defizite wegen zumeist, den Klagen der Geflüchteten stattzugeben. Im Lauf des Jahres 2018 änderte sich allerdings allmählich die Rechtsprechung, sagt Esen. Nun hatten die Verwaltungsgerichte einen größeren Ermessensspielraum und gingen immer mehr dazu über, solche Klagen abzuweisen.
Hilfsorganisationen warnten aber weiterhin vor den schlechten Bedingungen in Italien, sagt Kai Weber vom Flüchtlingsrat. Selbst Geflüchtete, die dort Asyl erhalten haben, müssten oft Betteln gehen.
Masterplan für Migration
2018 war das Jahr, in dem Innenminister Horst Seehofer seinem „Masterplan für Migration“ präsentierte, der eine verschärfte Abschiebepolitik vorsieht. Die Auswirkungen waren auch in Gifhorn spürbar: Anfang August, im Monat nach der Bekanntgabe des Masterplans, änderte die örtliche Ausländerbehörde plötzlich ihre Meinung und zog Bens Arbeitserlaubnis zurück, die noch bis Ende des Monats gültig gewesen wäre. Ben suchte daraufhin die Ausländerbehörde auf: „Ich habe denen meine Frage gestellt: Ich hatte eine Arbeitserlaubnis im Dublin-Verfahren, warum habe ich jetzt keine Erlaubnis mehr?“ Die Ausländerbehörde in Gifhorn sagte Ben, sie sei einem Irrtum aufgesessen. Er habe weder arbeiten noch einen Integrationskurs besuchen dürfen. Von einer „Fehlerkorrektur“ sei die Rede gewesen, erzählt er.
Seit diesen Tagen im August ist er zum Nichtstun verdammt. Das Leben des jungen Paares hat sich seitdem verändert. Stefanie zog in Bens Wohnung ein, gab ihre Arbeit als Friseurin in Stadthagen auf und suchte sich in Wolfsburg eine neue Anstellung. Den alten Friseursalon fand sie schöner, aber sie möchte für Ben da sein. Die beiden haben sich in Hannover kennengelernt, sich immer wieder besucht und später verlobt.
Was beide nicht verstehen können, ist die Begründung der Ausländerbehörde. Wie kann es sein, dass Ben einer Arbeit nachgehen durfte, an den alles entscheidenden Sprachkursen teilnehmen konnte – und dann wird ihm gesagt, das alles sei nicht erlaubt gewesen?
Dieser Widerspruch verletzt Bens Gerechtigkeitsempfinden. Im Gespräch mit einem Sachbearbeiter der Ausländerbehörde weigerte er sich, seiner Abschiebung schriftlich zuzustimmen: „Ich gehe nicht nach Italien“, sagte er ihm. Ben forderte, dass die Risikoschwangerschaft seiner Freundin als Grund beachtet wird, von der Abschiebung abzusehen, doch die Ausländerbehörde ging darauf nicht ein.
Kai Weber vom niedersächsischen Flüchtlingsrat meint, dass die Gifhorner Ausländerbehörde das Ausbildungsverhältnis, für das sie bereits eine mündliche Zusage gegeben hatte, auch im August noch hätte genehmigen können, als der Gerichtstermin vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig nahte. Die vollständigen Unterlagen hatte Erich Gliemroth der Behörde bereits im Juni zur Verfügung gestellt. Auch sei es unterlassen worden, die ärztlich attestierte Risikoschwangerschaft von Stefanie Fiedler amtsärztlich zu überprüfen. Hätte sich der Befund bestätigt, wäre dies ein Schutzgrund, der genau wie auch ein laufendes Ausbildungsverhältnis die Duldung verlängert hätte.
Handlungsspielräume nicht genutzt
Auch eine nachgeordnete Behörde hat Handlungsspielräume, die im Einzelfall den entscheidenden Unterschied bedeuten können, meint Weber. Die Integrationsleistung von Ben so mit Füßen zu treten, hält er für zynisch: „Das trägt den Charakter einer zweiten Vertreibung.“ In dem Verfahren scheine der unbedingte Wille des Bundesamts für Migration und Flüchtlingen durch, jede Abschiebung durchzuführen, für die eine rechtliche Möglichkeit besteht.
Dafür spricht, dass das Nürnberger Bundesamt im März 2019 gegenüber der Gifhorner Ausländerbehörde wiederholte, dass weder die außerehelichen Beziehung mit Stefanie Fiedler noch seine absehbare Vaterschaft zum jetzigen Zeitpunkt eine Schutzwirkung für Ben entfalten würden. Ein Familiennachzug aus Italien sei zudem zumutbar. Handelt das Bundesamt also, wie Kai Weber vermutet: „In der Hoffnung, wenn man das Paar zwangsweise auseinanderreißt, würde aus der Sache nichts werden“?
Zwischenzeitlich hat Ben Bakayoko als seinen mächtigsten Fürsprecher den niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) für sich gewonnen. Ben war zusammen mit Manfred Torkler am 26. November letzten Jahres zu einem Ortstermin des SPD-Politikers in Isenbüttel gegangen, um seinen Fall zu schildern. Daraufhin wandte sich Pistorius ans Bundesamt. Es könnte den Selbsteintritt erklären und die Zuständigkeit für das Asylverfahren des ivorischen Flüchtlings übernehmen.
Vergebliche Bemühungen
Doch bisher sind auch die Bemühungen des Innenministers vergeblich geblieben. Auf die negative Antwort aus dem fernen Nürnberg beruft sich seitdem die Ausländerbehörde in Gifhorn, deren Abteilungsleiter in einer E-Mail an Manfred Torkler schreib, seine Aufgabe bestände in der „Umsetzung der Entscheidungen des Bamf“.
An die Spitze des Bundesamts hatte Horst Seehofer im Juni 2018 den CSU-Politiker Hans-Eckhard Sommer bestellt, der hinter Seehofers politischem Projekt seiner sogenannten „Asylwende“ steht. Bei einem möglichen erneuten Abschiebeversuch kommt es nun vielleicht darauf an, ob die Polizeibeamten von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch machen. Denn über diesen verfügen nicht nur die Ausländerbehörde und das Bundesamt, sondern auch die ausführenden Beamten, wie sie am Morgen des 8. April bewiesen haben.
Bens Nachbarin Gitta hatte die Polizei gar nicht bemerkt. „Die kommen immer ganz leise“, weiß die 77-Jährige. Sie hat schon einmal eine Abschiebung am helllichten Tag erlebt, bei Ben Bakayoko wünscht sie sich, dass sie nicht noch einmal Zeugin dieses Vorgangs werden muss. Gitta findet, dass Ben ein sehr ordentlicher junger Mann ist. Ihr Sohn Thorsten, der wegen seiner Behinderung oft in seinem Rollstuhl auf der Veranda sitzt, könne gute Menschen erspüren. „Ben kommt manchmal zu ihm und hält seine Hand. Seitdem freut sich Thorsten immer, wenn Ben die Straße heraufgelaufen kommt“, erzählt Gitta.
Eigentlich ist es ein sehr gewöhnliches Leben, das Ben Bakayoko in Gifhorn führt. Er könnte seine Ausbildung beginnen, mit seiner Freundin das gemeinsame Kind groß ziehen. Um die Papiere für eine Heirat zusammenzubekommen, bräuchten sie fünf bis sieben Monate Zeit. Eine Zeit, die für das Paar derzeit viel zu schnell verstreicht.
Mehr zu Abschiebungen von Schwarzen nach Italien lesen sie in der taz am Wochenende oder hier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren