Abschiebung in die Obdachlosigkeit: Verzweifelt, aber gesund
Eine Afghane wird nach Italien abgeschoben, obwohl Experten vor den Zuständen dort warnen. Kritik gibt es auch am Polizeiarzt.
![](https://taz.de/picture/2871240/14/italien_Gabriele_Hafner_dpa.jpeg)
Seinem 22-jährigen Mandanten drohe dort die Obdachlosigkeit und eine Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen, so Sommerfeldt. „Die Bedingungen haben sich seit dem Regierungswechsel nicht verbessert“, sagt auch Marc Millies vom Flüchtlingsrat. „Das kann man eindeutig festhalten.“ Dabei hatte das Verwaltungsgericht Oldenburg bereits im 2017 – noch vor dem Regierungswechsel – entschieden, dass Geflüchtete vorerst nicht mehr nach Italien abgeschoben werden könnten. Ihnen drohe dort, „bei einem Leben völlig am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden“, schrieb der Richter. Er berief sich dabei auf zwei vorangegangene, gleichlautende Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Baden-Württemberg und des Bundesverwaltungsgerichts.
Viele Geflüchtete in Italien leben auf den Straßen oder in der Nähe von Bahnhöfen und betteln, um zu überleben. Immer wieder berichten Flüchtlingshelfer, das italienische Sozialsystem sei völlig unzureichend entwickelt, Integrationsprogramme fehlten weitgehend, ein Integrationsplan existiere nicht – und Nichtregierungsorganisationen oder Kirchen könnten das nicht auffangen. Immer wieder wird von Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention berichtet. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe attestierte Italien schon im vergangenen Jahr, dass selbst anerkannte Flüchtlinge „praktisch keine Chance auf ein sicheres Dach über dem Kopf, auf Arbeit und auf soziale Unterstützung“ haben.
Wann genau Omid F. in die EU kam, ist unklar, sicher ist nur, dass er schon in Italien, Frankreich, Schweden und Ungarn war und im November vergangenen Jahres über Flensburg nach Deutschland kam. Sein Asylantrag wurde als „unzulässig“ abgelehnt, im Juni wurde er erstmals nach Italien abgeschoben. Zudem bekam er ein sechsmonatiges Einreiseverbot.
Daran gehalten hat er sich nicht: Vier Tage nach seiner Abschiebung war er wieder in Bremen, nur zwei weitere Tage vergingen, eh er in Abschiebehaft kam. Dabei war F. gar nicht untergetaucht: Seiner ersten Abschiebung hatte er sich nicht widersetzt, und nach seiner Wiedereinreise meldete er sich umgehend bei der zuständigen Aufnahmeeinrichtung.
Trotzdem sieht das Landgericht Bremen „erhebliche Fluchtgefahr“, wie es in dem Beschluss heißt. Der Afghane sei „nicht ansatzweise bereit“, Entscheidungen gegen ihn zu akzeptieren. Ohne Sicherungshaft werde er sich der erneuten Abschiebung nach Italien „tatsächlich oder faktisch entziehen“. Auf seinen Anwalt Sven Sommerfeldt wirkt diese Entscheidung hingegen „wie eine gesetzlich nicht vorgesehene Sanktion“ gegen Omid F. – und nicht nur wie ein Mittel zur Absicherung der Abschiebung.
Zwei Mal wurde der Afghane mittlerweile von Amts- und Polizeiarzt E. begutachtet, ausweislich seines Stempels ein Facharzt für Allgemeinmedizin und Spezialist für Verkehrsmedizin. In seinem Befund vom 5. Juli beschreibt er den Geflüchteten als „etwas labil“ und „verzweifelt wg. Lebenssituation“, stuft ihn aber als „unverändert haft- sowie flug- und reisefähig“ ein. E. diagnostiziert „situationsbedingte Schlafstörungen“ und schreibt in der Anamnese über den Geflüchteten, „die Situation im Polizeigewahrsam belaste ihn …“.
Es stelle sich die Frage, ob der Polizeiarzt kompetent genug sei, um eine etwaige Suizidgefahr auszuschließen, so Sommerfeldt. Der Präsident der Bremer Psychotherapeutenkammer, Karl Heinz Schrömgens, kann zum Einzelfall nichts sagen, sagt aber grundsätzlich: Es sei „zwingend erforderlich“, dass ein Facharzt für Psychiatrie oder Psychotherapie oder ein psychologischer Psychotherapeut die Frage der Suizidgefahr oder etwaiger psychischer Erkrankungen beurteile. „In der Vergangenheit“ sei so ein Verfahren in Bremen auch „durchaus üblich“ gewesen. Das Innenressort hingegen sagt: „Die Einschätzung der Suizidalität kann zunächst von jedem approbierten Arzt durchgeführt werden“, und Herr E., der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sei ein „erfahrener Gutachter“. Bei Anzeichen einer Suizidalität werde aber sofort ein Psychiater hinzugezogen, so die Behörde.
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