Abkommen zum Schutz der Artenvielfalt: Argumente für Moor und Wolf
Der Vertrag von Montreal löst nicht das Problem des Artensterbens. Aber er bildet einen wertvollen Leitfaden, um Biodiversität besser zu schützen.
H at wirklich irgendwer geglaubt, die Weltgemeinschaft – und auf der Konferenz der Mitgliedsstaaten der Biodiversitätskonvention in Montreal war ja wirklich die ganze Welt, auch die USA, obwohl sie nicht Mitglied sind, und der Vatikan ist egal – würde so eine Art Umweltgesetzbuch verabschieden? Die Länder würden an einem Dezembertag des Jahres 2022 verkünden, sie würden künftig ihre Chemieindustrie gesundschrumpfen, Ackergifte verbieten, Düngemittel reduzieren, die Plastikproduktion einschränken; sie würden die Landrechte neu ordnen, den Straßenbau einstellen, den Papierverbrauch rationieren? Sie würden ihre Banken und Investmentsfonds an die Kette legen und ihnen Investitionen verbieten, die Böden versiegeln, die Klimakrise anheizen und Meere verdrecken? Und so weiter?
Das alles wäre nötig, um wirksam weltweit den Verlust der Biodiversität zu stoppen. Es wäre nötig, um Tieren und Pflanzen Lebensräume zu bieten und Ökosysteme zu erhalten.
Von denjenigen, die sich schon länger mit dem Schutz der Artenvielfalt befassen, hat das wohl niemand ernsthaft geglaubt. Obwohl jetzt einige so klingen: Der Vertrag sei nicht konkret genug. Er wiederhole die Fehler der Aichi-Ziele, die der Vertrag von Montreal ersetzen wird: Hehre Ansprüche, nix dahinter, keine Sanktionen für Frevler, keine Berichtspflichten für Staaten oder Unternehmen, keine Verbote. Das ist alles richtig, wenn man an den Vertrag von Montreal den Maßstab einer Richtlinie oder eines Gesetzes anlegt. Mit solch einem Maßstab aber lässt sich das „Rahmenabkommen“ der CBD, der Konvention über Biologische Vielfalt, nicht fassen. Das Abkommen mit seinen „Goals“, also langfristigen, und „Targets“, also kurzfristigen, konkreten Zielen, ist eine Diskurshilfe. Nicht mehr. Aber das ist nicht wenig.
Gewiss: Es ist weniger als das Klimaabkommen von Paris. Dieses hat zwar bislang nicht dazu geführt, dass die Treibhausgasemissionen – neben der Landwirtschaft übrigens der zweite große Treiber der Biodiversitätsverluste – sinken. Aber „Paris“ ist rechtlich verbindlich und ermöglicht somit Klagen – etwa vor dem Bundesverfassungsgericht. Seine Kraft entfaltet der Vertrag aber vor allem mit seinem „1,5-Grad-Ziel“. Das halten die meisten Wissenschaftler zwar für nicht mehr erreichbar, doch im politischen Diskurs ist es unschätzbar. Das Ziel wird inzwischen auch von jenen als Argument akzeptiert, die den Klimawandel vor 10 Jahren noch für so drängend hielten wie die Reform der Buchpreisbindung.
Inzwischen ist das Ziel aller ernstzunehmenden Politikangebote in Deutschland die Klimaneutralität innerhalb der nächsten 30 Jahre, auch wenn sich über die jeweiligen Lösungsvorschläge natürlich trefflich streiten lässt. In den meisten Demokratien ist es ähnlich, in Diktaturen, die auf Stabilität bedacht sind – wie China – ebenso. Seine Wucht hat der „Paris-Moment“ nicht durch den Wortlaut der Verträge entfaltet, sondern durch das Bekenntnis, Klimaschutz jetzt ernst zu nehmen.
Solch ein Bekenntnis hat beim Verlust der biologischen Vielfalt bislang gefehlt. Nun ist es da. Wucht und Durchsetzungskraft wird das Abkommen von Montreal künftig nicht dadurch entfalten, dass das interessierte Publikum es zerredet und sich in Textexegese verzettelt. Sondern dadurch, dass Umweltverbände, Bürgerinitativen und Parteien das Bekenntnis nutzen, um lokale, politische Entscheidungen zugunsten der Biodiversität durchzusetzen.
Wenn der Deutsche Bauernverband künftig gegen die Wiedervernässung von Moorgebieten wettert, stellt er sich offen gegen einen Vertrag der Länder der Welt. Denn auch Deutschland muss wertvolle, zerstörte Naturflächen renaturieren, und Moore fallen Natur- und Klimaschützern da als erstes ein. Wenn das EU-Parlament beschließt, den Abschuss von Wölfen in Europa zu erleichtern, handelt es gegen den Geist von Montreal. Denn der sieht vor, dass die Populationen von Wildtierarten groß genug sein müssen, um die genetische Vielfalt innerhalb der Arten und somit ihre Widerstandskraft gegen Umweltveränderungen zu erhalten. Und der Verband der Ölsaaten verarbeitenden Industrie muss bessere Antworten als bisher finden, wenn er gefragt wird, von welchen brasilianischen Äckern die Soja-Importe seiner Mitgliedsunternehmen stammen, und ob dort die Rechte der lokalen Bevölkerung geachtet wurden oder nicht.
Obwohl Berichtspflichten sinnvoll wären, fragen kann man auch ohne sie. Man braucht nur zu wissen, dass der Soja-Anbau den Regenwald zerstört und dass dies die Biodiversität gefährdet. Und dass die Menschheit diese tödliche Kette abreißen möchte. Denn jede banale, noch so kleine Entscheidung ist eingebettet in eine große Erzählung. Soll die Stadt Brandenburg an der Havel ein neues Gewerbegebiet auf die grüne Wiese setzen, um ihrer wachsenden Bevölkerung Beschäftigung und Wohlstand auch in Zukunft zu sichern? Nein, soll sie nicht. Soll Rheinland-Pfalz seine Bundesstraße 10 vierspurig ausbauen? Nein, auch nicht. Für beide Projekte gibt es gute Gründe und Argumente. Aber sie versiegeln Böden, zerreißen intakte Naturräume, führen zu Treibhausgasemissionen und stellen damit genau den Kampf gegen die Natur dar, den die Staatengemeinschaft in Montreal für beendet erklärt hat.
Insofern hat die gute alte Forderung vom „global denken, lokal handeln“ in dem Abkommen einen Leitfaden bekommen. Es ist darin aufgelistet, was es zu bedenken gilt, es sind Problemfelder beschrieben, die zu lösen sind. Das wird auch künftig nicht einfach. Der Schutz der Biodiversität ist, noch mehr als der Klimaschutz, immer Teil eines harten Machtkampfes. Es geht darum, wie ein Stück Land bearbeitet wird. Wer darauf bauen darf. Wo Bodenschätze gehoben werden dürfen. Und wer an all dem verdient. Es geht aber auch um Ideale, um die Liebe und die Nähe zur Natur. Dass sie nicht leichter wiegen müssen, das steht jetzt in dem Vertrag von Montreal. Wir sollten ihn hoch halten.
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