Abkehr vom Pazifismus: Schwerter und Pflugscharen
In der DDR-Friedensbewegung demonstrierte unser Autor für den Weltfrieden. Heute ist er überzeugt, dass die Freiheit auch mit Waffen verteidigt werden muss.
D en Wehrdienst habe ich 1987 „aus Glaubens- und Gewissensgründen“ total verweigert. Das Einschreiben an das Wehrkreiskommando meiner Geburtsstadt Burg bei Magdeburg ist auf den 5. Februar 1987 datiert. Den Einlieferungsschein habe ich noch. Hätte ich den Einberufungsbefehl erhalten, hätten mich zwei Jahre Knast erwartet. Es kam nicht dazu. Ich war 22 Jahre alt und ich dachte, dass mein Pazifismus ein Leben lang halten würde. Seit dem 24. Februar 2022 ist das vorbei. Die Ukraine muss sich verteidigen können, mit allen Mitteln, und der Westen muss sie unterstützen, auch militärisch.
Der Pazifismus der achtziger Jahre war eine klare Angelegenheit: Es ging darum, den Atomkrieg zu verhindern. Ein falscher Befehl, ein Irrtum, und das Leben wäre vorbei gewesen. Meine Freunde im Westen demonstrierten gegen die Pershings, wir protestierten gegen die sowjetischen Raketen und den Militarismus, der im „Friedensstaat DDR“ selbst Kindergärten nicht verschonte. Der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ war unser Symbol. Sah ich Soldaten, dachte ich an Wolf Biermanns Verse: „Soldaten seh’n sich alle gleich, lebendig und als Leich'!“ Es gab Momente, da glaubte ich, die Welt würde bald im Atomtod verglühen. Das Gefühl, einer letzten Generation anzugehören, gibt es nicht erst seit heute.
Es ging um den Weltfrieden, die Freiheit blieb ausgeklammert. Dass ich in einem ziemlich kleinen, eingezäunten Staat leben würde, damit hatte ich mich abgefunden. Ein Ausreiseantrag kam für mich nicht infrage. „Bleibe im Lande und wehre dich täglich!“, war die Devise. Meine Zukunft sah ich als evangelischer Pfarrer, für mich der einzig sinnhafte Beruf in diesem Staat. Über Besuch von Gleichgesinnten aus dem Westen freute ich mich. Seltsam fand ich allerdings, wenn mir jemand von ihnen erklärte, dass die deutsche Teilung eben der Preis dafür sei, dass Hitler Krieg und Vernichtung über Europa gebracht hat.
Wladimir Putin überzieht jetzt die gesamte Ukraine mit Krieg. Der russische Präsident will das Nachbarland unterwerfen, weil er mit dessen Kurs nicht einverstanden ist. Die Ukraine drängt nach Westen. Zweimal haben sich die Menschen erhoben, 2004/05 in der Orangenen und 2014 in der Maidan-Revolution. Sie wollen das Erbe der Sowjetunion endgültig abschütteln. Und das nicht nur im Westteil des Landes. Auch eine Mehrheit im Osten hat vor Jahren schon die Mitgliedschaft in der EU befürwortet. Als der Wahlfälscher von 2004, Viktor Janukowitsch, im zweiten Anlauf 2010 zum ukrainischen Präsidenten gewählt wurde, flog der Mann aus dem Donbass nach seiner Amtseinführung zuerst nach Brüssel, nicht nach Moskau.
Thomas Gerlach, Jahrgang 1964, Agrotechniker, Filmvorführer, Diplom-Theologe, Journalist, seit 2009 taz-Redakteur.
Seit 2005 habe ich zwei Reiseführer über die Ukraine geschrieben. Ein dritter sollte über die Krim entstehen. Während meiner Recherche war ich oft bei Krimtataren zu Gast. Sie sind in den neunziger Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt, von wo aus Stalin sie 1944 hatte deportieren lassen, angeblich wegen Kollaboration mit den Deutschen. In Wahrheit wollte Moskau die Krim ungestört zu einer gewaltigen Militärbasis ausbauen. Ich habe dort weltoffene Muslime kennengelernt, die sich mit Gästezimmern, Pensionen und – eine Seltenheit auf der Krim – stilvollen orientalischen Restaurants eine neue Existenz schufen.
Blick über den Fernsehturm
Der Reiseführer ist nie erschienen. 2014 annektierte Russland die Krim. Die Krimtataren, die das „Referendum“ im März 2014 boykottierten, stehen seitdem unter Generalverdacht, viele von ihnen sind im Gefängnis, andere leben im Exil. Bei der russischen Teilmobilmachung im Oktober 2022 wurden krimtatarische Männer besonders häufig eingezogen. Es ist, als hätte sich ein fataler Kreis geschlossen: Die Halbinsel ist erneut hinter dem Eisernen Vorhang versunken. Jetzt soll die gesamte Ukraine folgen.
In Berlin überquere ich, jedes Mal, wenn ich zur taz fahre, den alten Grenzstreifen. Nicht dass mir dabei ständig das Herz hüpfen würde, doch in letzter Zeit erinnere ich mich wieder häufiger an das halbierte „Berlin, Hauptstadt der DDR“. Als Halbwüchsiger fand ich den Fernsehturm nur aus einem Grund interessant: Er gab den Blick frei übers Brandenburger Tor. Jedes Flugzeug, das in Richtung Flughafen Tegel einschwebte, jeder gelbe Doppelstockbus der Berliner Verkehrsgesellschaft BVG am Großen Stern, jeder Radiohit von Rias 2 – alles klang, leuchtete und roch nach Freiheit.
Freiheit, was ist das? Über sich selbst bestimmen – über Bücher, Lieder, Glauben, Klamotten, über Gedanken, über das eigene Ich. Das war der Traum, mein Traum. Die Wirklichkeit finde ich heute noch in meinen alten Schulaufsätzen. „Meine Jugendweihefeierstunde. Ein Erlebnis, das mich sehr beeindruckt hat.“ Oder: „Leben wie Pawel Kortschagin?“, der jugendliche Bolschewik aus dem Sowjetroman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski. In meiner eigenen Handschrift zu lesen, wie ich mich mit vierzehn verbogen habe, tut weh.
Putins Russland ist heute das, was die Sowjetunion, was auch die DDR war – eine Diktatur. Ihre Merkmale: Verfolgung von Oppositionellen, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Überwachung, politische Justiz, Verschleppung, Zwangsadoption, politischer Mord. Damals reichte die staatliche Willkür in jeden Winkel unseres Alltags: In einem Nachbardorf kam ein Mädchen, keine achtzehn Jahre, ins Gefängnis. Warum? Sie wollte Michael Jackson sehen und hatte sich in einem Zug Richtung Westen versteckt. Ein Staat, der solche Träume zerstört, verdient keine Zukunft.
Ein Gedankengebäude aus Hass und Selbstmitleid
Wladimir Putin folgt anderen Träumen. Er will aus den Trümmern der Sowjetunion und des Zarenreichs ein Imperium wiederbeleben, das der orthodoxe Patriarch Kyrill I. zum Bollwerk der Heiligen Rus gegen westlichen Verfall und „Gayropa“ verklärt. Der Baustoff dieser Gedankengebäude sind Hass und Selbsthass, Kränkung, Gewalttätigkeit, Selbstmitleid. Wie es wirklich um die „Heilige Rus“ und ihre Bewohner bestellt ist, steht in „Secondhand-Zeit“ beschrieben. Das Buch der belarussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ist ein auf jeder Seite bitteres Psychogramm des Homo Sovieticus.
Anfang der neunziger Jahre konnte man in Moskau merkwürdige Gestalten beobachten: Die „Rot-Braunen“ waren halb Rechtsextreme, halb Kommunisten und trugen gleichzeitig Stalin- und Zaren-Bilder vor sich her, irgendetwas Erhabenes herbeisehnend. Heute ist diese rot-braune Melange offizielle Kremlpolitik, und das Gegenteil von dem, was unser Leben im wiedervereinigten Deutschland ausmacht. Sein Kern ist die Freiheit.
Dass die Menschen in der Ukraine die Freiheit anstreben, überrascht mich nicht. Dass Wladimir Putin das verhindern will, auch nicht. Nach einem Jahr russischer Invasion ist völlig offen, ob es die Ukraine als souveränen Staat noch lange geben wird. Es ist in unserem Interesse, dieses Land zu unterstützen. Aber nicht nur das. Es geht um Glaubwürdigkeit. Wollen wir den Krimtataren, den Menschen im ausgeplünderten Cherson, den Hippies von Lwiw erklären, dass sie wieder einmal Pech haben? Dass sie ihr Schicksal zu erdulden hätten als Preis für einen Frieden mit einem Kremlherrn, der schon mehrfach mit der Atombombe gedroht hat? In Deutschland kursiert ein „Manifest für Frieden“, das mit viel pazifistischer Rhetorik genau darauf abzielt. Es ist ein Dokument der Angst – und der Eiseskälte.
Wer sollte Wladimir Putin die Stirn bieten, wenn nicht die westlichen Staaten? Die Ukraine muss sich verteidigen und wir sollten sie unterstützen, auch mit Panzern. Das zu schreiben, deprimiert, denn es bleiben Tötungsmaschinen. Wie zuversichtlich habe ich das Zerbrochene Gewehr am Parka getragen, das mir Freunde aus dem Westen mitbrachten. Und wie sehr ist mein Leben mit Russland verwoben, meine Kinder sind binational, russisch und deutsch. Doch solange die Ukraine um das kämpft, was wir haben und beschützen sollten, die Freiheit, so lange ist Pazifismus keine Lösung mehr.
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