Abgesagte Obdachlosenzählung in Berlin: Brauchen wir diese Zählung noch?
Mittwochnacht sollte es die zweite Obdachlosenzählung geben. Mangels Freiwilliger wird sie verschoben. Brauchen wir sie echt noch? Ein Pro und Contra.
Ja, sagt Bálint Vojtonovszki. Er leitet beim Verband für sozial-kulturelle Arbeit das Projekt „Zeit der Solidarität“, zu dem auch die Zählung und Befragung obdachloser Berliner:innen gehört:
„Klar war die Verschiebung eine schwere Entscheidung und natürlich sind einige sauer und enttäuscht. Aber es waren einfach nicht genug Freiwillige, um das Projekt vernünftig durchzuführen. Wir hoffen jetzt, dass das im Winter wieder anders wird.
Eigentlich war eine Sommerzählung vorgesehen und die wollen wir auch auf jeden Fall noch machen. Aber erst einmal ist es – nach zwei Verschiebungen – wichtig, dass der Abstand zur ersten Erhebung nicht zu groß ist. Die Daten verlieren sonst ihre Aussagekraft.
Dass es jetzt nicht geklappt hat, hat Gründe, wir müssen das noch genauer analysieren. Es ist gerade sehr schwer für alle Vereine, Freiwillige für die Obdachlosenhilfe zu gewinnen. Im Sommer sind die Aufmerksamkeit und Empathie und auch das Interesse der Medien geringer. Aber das wussten wir und wollten gerade da auch Bewusstsein schaffen. Womit wir aber nicht rechnen konnten, war der Ukrainekrieg. Die Folgen binden viele Freiwillige.
Absage Die Zählung und Befragung obdachloser Menschen durch Freiwilligen-Teams gab es als „Nacht der Soildarität“ erstmals im Winter 2020. Damals wurden rund 2.000 obdachlose Menschen gezählt. Im Sommer 2021 fiel die geplante Wiederholung wegen Corona aus. Die nun für die Nacht vom 22. auf den 23. Juni geplante Erhebung wurde auch abgesagt – nur die Hälfte der benötigten 2.400 Freiwilligen hatte sich angemeldet. Als neuen Termin nannten die Organisatoren vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit (VskA) den Januar 2023.
Austausch Das Rahmenprogramm der „Zeit der Solidarität“ findet dennoch statt. Gemeinsam mit dem Aktionsbündnis Solidarisches Kreuzberg und der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen organisiert der VskA außerdem am 22. und 24. Juni die „Zeit für Gespräche“, zu denen obdachlose Menschen und die bislang angemeldeten Freiwilligen eingeladen sind. (mah)
Kritik gab und gibt es schon die ganze Zeit, schon vor der ersten Zählung im Januar 2020. Auch von Wohnungslosenselbstvertretungen. Da gibt es einmal die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten. Sie sind Mitwirkende unserer Veranstaltungen, die trotz der abgesagten Erhebung jetzt stattfinden. Sie sind nicht gegen die Erhebung, aber sie üben Kritik an der Methodik. Darüber können wir diskutieren. Manches haben wir auch schon berücksichtigt. Zum Beispiel sind für die Erhebung nur noch Dreierteams geplant, weil zu große Gruppen für obdachlose Menschen beängstigend sein könnten.
Dann gibt es noch die Wohnungslosenstiftung, die ist ziemlich neu, aber in der Gründungsphase haben wir da auch Kontakt gesucht. Sie lehnen jede Datenerhebung ab. Wir sind offen für Diskussionen, aber was soll man da diskutieren?
Natürlich schaffen Daten allein keine Obdachlosigkeit ab. Aber die Politik muss Daten haben, um Hilfsangebote bedarfsgerecht anzupassen. Auch die Zivilgesellschaft kann die Daten nutzen, um Veränderungen voranzutreiben. Niemand kann alle obdachlosen, geschweige denn wohnungslosen Menschen zahlenmäßig erfassen, das ist auch nicht unser Anspruch. Aber wenn man diese Erhebung regelmäßig macht, dann werden Trends erkennbar und das liefert uns wertvolle Informationen über die Effizienz der Hilfsangebote und Leistungen.
Die Statistik ist die Grundlage. Auch für Projekte wie Housing First: Wie viele Wohnungen brauchen wir denn für obdachlose Menschen? 5.000 oder 10.000? Ohne Erhebungen wissen wir das nicht. Unsere Statistik aus der Straßenzählung ist dabei nur ein Teil. Wir würden uns sehr freuen, wenn endlich auch die übrigen Gruppen von wohnungslosen Menschen erfasst würden.
Sinn macht das Projekt nur langfristig. Im Moment gibt es eine Finanzierung bis 2024 über die Lottostiftung. Spätestens danach muss es verstetigt werden, im Haushalt ist dafür schon ein Posten – noch ohne Summe – vorgesehen. Wir brauchen die Politik, aber es ist gut, dass die Zivilgesellschaft die Verantwortung trägt. Wir sind vernetzt mit Vereinen der Nachbarschaftshilfe und wollen uns so in den Kiezen verankern, so dass sich Menschen langfristig engagieren. Wir wollen auch mehr Menschen mit Obdachlosigkeitserfahrung einbinden.
Warum sollte diese Datenerhebung menschenunwürdig sein? Dieses Jahr ist auch der Zensus, da werden Menschen an ihren Haustüren befragt. Unser Projekt ist ähnlich.
Wir brauchen Daten und solidarisches Handeln, um Wohnungslosigkeit zu bekämpfen. Unser Projekt steht für beides.“Protokoll: Manuela Heim
Nein, sagt Stefan Schneider von der neu gegründeten Wohnungslosenstiftung, einem Netzwerk von und für (ehemals) wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen:
„Es war so einige Wochen vor der ersten Zählung: da wurde großer Unmut laut unter wohnungslosen Menschen, die da nun gezählt werden sollten. Das war der Beginn einer kritischen Position, die sich jetzt, in diesem Sommer, im Prinzip noch einmal wiederholt. Und in dem Moment, wo es Gegenwind von Obdachlosen gibt, wird deutlich: Da stimmt was nicht.
Das Narrativ zu dieser Zählung ist: Wir brauchen Zahlen, um dies und jenes zu tun. Aber jeder, der in Berlin lebt und sich bewegt, der kommt an Obdachlosigkeit gar nicht vorbei. Wir haben ein Problem mit Obdachlosigkeit, und das Mittel dagegen sind Wohnungen. Wenn man die bereitstellt, mit Housing First, dann würde sich die Obdachlosigkeit nachhaltig verringern.
Dafür brauche ich keine genauen Zahlen. Man muss einfach mal richtig loslegen und das konsequent durchziehen. Die Wartezeiten bei Housing First sind mit Glück mehrere Monate. Diesen Spannungsbogen halten obdachlose Menschen aber nicht aus. Da geht es um die nächste Nacht.
Diese Argumente, die da noch für die Zählung kommen: „Die Obdachlosen brauchen mehr Aufmerksamkeit.“ Nein, sie brauchen eine Wohnung! Oder: „Wir müssen mehr wissen über das Leben auf der Straße.“ Nein, müssen wir nicht, das Leben auf der Straße ist scheiße, und das macht keiner gern freiwillig. Das machen die Leute, weil die Angebote noch beschissener sind.
Die ganzen Gängeleien in den Notunterkünften, das Schlafen in Bettensälen oder Wärmehallen, aus denen man morgens um 8 Uhr wieder raus sein muss, die längerfristigen Unterkünfte, die auch nicht mehr sind als Verwahrstationen ohne Perspektiven …
Über diese haltlosen Zustände müssen wir reden, und dafür brauchen wir keine Zählung. Mal ehrlich, das ist so ein beschwichtigendes Kümmern von Menschen, die eine Wohnung haben. Aber das hat keinen Nutzen, keinen Mehrwert für die obdachlosen Menschen selbst.
Bestimmt gibt es Obdachlose, die sich dadurch auch mal gesehen fühlen. Das ist wie mit der Suppe, die kostenlos verteilt wird. Die stillt kurz den Hunger, aber grundlegend verändert sich nichts. Was hat sich denn seit der ersten Zählung geändert? Fragen Sie doch mal unter Obdachlosen herum!
Wenn man wirklich mehr Aufmerksamkeit für den Kampf gegen Obdachlosigkeit haben will, dann schickt die Leute los und lasst sie leerstehende Häuser und unbebaute Brachen zählen. Ja, wir sollten dafür sensibilisieren, wo Platz für Wohnungen ist, statt in einem menschenunwürdigen und methodisch fragwürdigen Vorgang Obdachlose zu zählen. Und dann lasst uns Mechanismen entwickeln, diese Räume auch zu nutzen, und wir werden sehen, wie schnell die Obdachlosigkeit zurückgeht.
Das wurde doch auch während Corona deutlich, als leerstehende Hotels angemietet wurden für Obdachlose. Die Leute, die das begleitet haben, haben gesagt: Es ging den Leuten von heute auf morgen besser, ohne den Stress der Straße. Die Menschen fingen wieder an, darüber nachzudenken, wohin ihr Leben gehen soll. Das ist das, was wir brauchen. Auch im Sinne der EU-Vorgabe, die Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden.
Lasst uns reden, ja. Wie wir Obdachlosigkeit wirklich bekämpfen. Aber vorher sagt diese Zählung ganz ab. Die Ablehnung der Zählung ist eine Chance, die zahlreichen unzumutbaren Angebote der Kältehilfe und Wohnungslosenhilfe in Frage zu stellen. Darüber sollten die endlich nachdenken, die sich so stark für die Obdachlosenzählung einsetzen und jetzt gescheitert sind.“ Protokoll: Manuela Heim
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