Obdachlose und Corona in Berlin: Kein Platz für kranke Obdachlose

Betreiber von Notunterkünften schlagen Alarm: Häufig werden infizierte Obdachlose wegen fehlender Quarantänemöglichkeiten abgewiesen.

Person unter einer Decke auf einer Parkbank

Obdachloser im Tiergarten Foto: imago

BERLIN taz | An Corona erkrankte Obdachlose haben in Berlin häufig keine Möglichkeit, sich zu isolieren. In vielen Fällen müssen sie sogar trotz Symptomen auf der Straße schlafen, weil ihnen der Zugang zu Notübernachtungen verwehrt wird. Das geht aus einem offenen Brief hervor, mit dem sich nun Berliner Notschlafstellen und Träger an den Senat wenden. Bis April stellte das Land Berlin noch drei Quarantänestationen bereit, um coronakranke Obdachlose zu versorgen. Mit dem Auslaufen der Kältehilfe entfielen diese ­zentralen Angebote jedoch.

In dem Brandbrief, der der taz vorab vorliegt, heißt es, dass seit Ende Mai 34 Fälle bekannt geworden seien, in denen positiv auf Corona getestete Obdachlose von Notschlafstellen abgewiesen werden mussten, davon allein 26 im Juli. In einer Notunterkunft für Frauen hätten in einer Nacht sechs Betroffene abgewiesen werden müssen. Auch einer coronakranken Person im Rollstuhl habe man den Zugang verwehren müssen. Die Situation sei „menschenverachtend und lebensgefährlich“, heißt es in dem offenen Brief.

Der Senat hatte in der vergangenen Woche in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von Taylan Kurt, dem sozialpolitischen Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus, angegeben, dass ihm 17 Fälle bekannt seien.

Die Notunterkünfte müssen die infizierten Obdachlosen abweisen, weil sie nicht über passende Räumlichkeiten zur Isolation verfügen. Da zugleich die Gesundheit der anderen Wohnungslosen und der Mitarbeiter geschützt werden müsse, gebe es keine andere Lösung, als den Betroffenen den Zugang zu verwehren. Die würden so gezwungen, ihre Infektion bei 30 Grad und mehr auf der Straße auszukurieren. „Das ist unterlassene Hilfeleistung!“, mahnen die Unterzeichnenden, zu denen unter anderem Einrichtungen unter Trägerschaft der Stadtmission und der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gehören.

Allein in diesem Monat wurden 26 erkrankte Obdachlose abgewiesen

Ohnehin gesundheitlich angeschlagen

Schwer erkrankte Fälle werden ins Krankenhaus gebracht, wer dafür jedoch nicht krank genug ist, müsse zurück auf die Straße geschickt werden – auch wenn es Risikofaktoren wie Vorerkrankungen gibt. „Wir können dann nicht viel mehr machen, als den Leuten zu sagen: Setzen Sie eine FFP2-Maske auf und legen Sie sich in die S-Bahn“, sagt Elisa Lindemann, die die Notübernachtung Marie in Mitte leitet und den offenen Brief mitinitiiert hat. Dabei seien die Obdachlosen besonders vulnerabel, viele seien ohnehin gesundheitlich angeschlagen.

Manche Notübernachtungen testeten gar nicht mehr, um gar nicht erst in die Situation zu kommen, Obdachlose abweisen zu müssen. Das gefährde allerdings andere Nutzer der Unterkunft. „Dass es überhaupt so weit kommt, zeigt die Verzweiflung der Einrichtungen“, sagt Lindemann. „Dass es in dieser Situation noch nicht zu größeren Infektionsherden in den Unterkünften gekommen ist, ist nur Glück.“

Der Senat verweist darauf, dass die Bezirke für die Unterbringung infizierter Obdachloser zuständig sind. Die scheinen dieser Aufgabe jedoch schwerlich nachkommen zu können: Auf taz-Anfrage bei den Bezirken gaben zehn an, keine gesonderten Quarantänemöglichkeiten für Obdachlose zu unterhalten, die anderen beiden Bezirke reagierten bis Redaktionsschluss nicht.

Häufig gibt es zwar in Wohnheimen, die auf eine mittelfristige Unterbringung ausgerichtet sind, Räume zur Isolation – in Notunterkünften, die für wenige Nächte Obdach bieten, existiert dies jedoch nur in den seltensten Fällen. „Der Senat macht es sich zu einfach, bei diesem Problem auf die Bezirke zu zeigen“, lässt Falko Liecke (CDU), Bezirksstadtrat für den Bereich Soziales in Neukölln, über einen Sprecher mitteilen.

Aufgabe des Senats

Taylan Kurt sieht vor allem finanzielle Hürden für die Bezirke. Aus der Aufstellung des Senats gehe hervor, dass der Betrieb einer Quarantänestation mehr als eine Million Euro im Jahr koste. „Das hat kein Bezirk mal eben rumliegen. Das muss der Senat machen“, fordert der Abgeordnete. Die Raummiete sei dabei nur ein Faktor, vor allem fehle qualifiziertes Personal. Für Suchtkranke müsse beispielsweise die Sub­stitution sichergestellt sein oder für psychisch Kranke eine angemessene Betreuung. Dieser Personalaufwand könne nicht regelmäßig hoch- und heruntergefahren werden.

Für den SPD-Abgeordneten Lars Düsterhöft ist es zudem wenig praktikabel, zwölf dezentrale Angebote zu schaffen. „Es war ein Irrglaube, dass man im Sommer auf eine zentrale Quarantänestation verzichten kann“, sagt er der taz. Eine zentrale Quarantänestation vor dem Herbst einzurichten, hält der Senat angesichts der zuletzt geringen Auslastung jedoch nicht für notwendig. Auch aus einigen Bezirken heißt es, dass es aufgrund der niedrigen Fallzahlen möglich sei, Obdachlose, die in Notunterkünften positiv getestet wurden, in Wohnheimen zu isolieren.

Taylan Kurt empfindet diese Argumentation als kurzsichtig: In einer Pandemie sei es normal, dass die Fallzahlen schwanken. Die Träger bräuchten jedoch Planungssicherheit. „Die Pandemie hält sich nicht an die Landeshaushaltsordnung“, sagt er. Elisa Lindemann berichtet, dass eine Vermittlung tagsüber zwar teilweise möglich sei, ihre Notunterkunft aber erst abends öffne. „Dann ist im Bezirksamt niemand mehr zu erreichen.“

Eine langfristige Lösung zeichnet sich derzeit nicht ab. Aktuell ist das Parlament in der Sommerpause. Lars Düsterhöft stellt in Aussicht, dass das Thema bei der Klausur der Fachpolitiker der Koalitionsfraktionen Ende August aufgegriffen wird. Auch Übergangslösungen sind nicht in Sicht. Der Idee, infizierte Obdachlose gemeinsam mit positiv getesteten Geflüchteten zu isolieren, erteilt der Senat eine Absage. Die Bedürfnisse seien zu unterschiedlich, Familien mit Kindern könne man nicht gemeinsam mit Suchtkranken unterbringen.

Der Grünen-Politiker Taylan Kurt würde sich wünschen, dass kurzfristig Hotels für die Quarantäne angemietet werden. Auch Elisa Lindemann kann sich das vorstellen, bezweifelt aber, ob in diesem Rahmen eine bedarfsgerechte Versorgung möglich ist. Kurt regt an, nicht nur die Frage nach Quarantäne, sondern auch Testkonzepte und Prävention an einem runden Tisch gemeinsam mit Senatsverwaltung und Trägern zu diskutieren. Lindemann geht das nicht schnell genug: „Wir brauchen Lösungen, am besten noch heute.“

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