piwik no script img

Abgeordnetenmord in GroßbritannienLebensgefährliche Demokratie

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Wieder ist ein Mitglied des britischen Parlaments ermordet worden. Es ist etwas zerbrochen, was kein einzelner Politiker kitten kann.

Gedenken an David Amess am Tatort Foto: Chris Radburn/Reuters

W ieder ein Mord an einem Parlamentsabgeordneten, wieder steht Großbritannien unter Schock. Mit 17 Messerstichen in einer Kirche wurde David Amess, der konservative Abgeordnete für den Wahlkreis Southend West, von einem 25-jährigen Londoner somalischer Herkunft niedergestreckt. Vor über fünf Jahren wurde die Labour-Abgeordnete Jo Cox auf ähnlich brutale Weise getötet. Beide starben im Rahmen ihrer wöchentlichen Bürgersprechstunde – ein unverzichtbarer Teil der Wahlkreisarbeit.

Unterhausabgeordnete in Großbritannien sind exponierter als anderswo: Sie sind direkt gewählt, ihre Legitimation beziehen sie in erster Linie von ihren Wählern, nicht von ihrer Partei. David Amess saß 38 Jahre im Parlament, ohne je Minister zu werden – aus seiner Sicht kein Scheitern, sondern eine Bestätigung. Die Menschen im Wahlkreis standen für ihn an erster Stelle.

Cox fiel einem Neonazi zum Opfer, Amess einem mutmaßlichen Islamisten. Geheimdienste warnen schon seit einiger Zeit vor einem erhöhten Risiko neuen islamistischen Terrors. Der „Islamische Staat“ hat sich teilweise reorganisiert, der Taliban-Sieg in Afghanistan hebt die Moral, die Radikalisierung im Netz nimmt in Zeiten der Corona-Lockdowns und der Internet-Verschwörungstheorien wieder zu.

Aber welche Motive auch immer der Tat zugrunde liegen: Für Gewalttäter jeder Couleur sind Politiker ohne Personenschutz geradezu eine Einladung. Es erfordert großen Mut, als Person des öffentlichen Lebens ungeschützt in der Öffentlichkeit zu stehen. Das gilt nicht nur für Großbritannien. In Deutschland werden immer wieder Bürgermeister – öffentlich ähnlich bekannt wie Abgeordnete in Großbritannien – Anschlagsziele.

Was kann man da tun? Politiker vor den Bürgern abzuschotten, ist in einer Demokratie nicht die Lösung: Wenn sich die Politik vor den Menschen verschließt, verschließen sich die Menschen vor der Politik, und das Gemeinwesen zerbricht. Aber wenn ein Mord wie der an David Amess möglich ist – dann ist ohnehin schon viel zerbrochen, was kein einzelner Politiker kitten kann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • 9G
    92293 (Profil gelöscht)

    Es geschieht im Westen das was in Thailand und Bangladesch begann. Menschen die rein und eindeutig für ihre Überzeugungen einstehen, zB tief verankerte Buddhisten werden bedroht und angegriffen. In Europa sind es motivierte Politiker die die Nähe zum Bürger möchten …. Eine Entwicklung die man nicht für gut halten kann