Abfalltrennung in der Ukraine: Der Müll und der Krieg
Die ukrainische Kleinstadt Ljubotin ist beschossen worden. 10.000 Flüchtlinge leben hier. Anna Prokajewa beschäftigt sich dort mit Mülltrennung. Warum?
M ühsam quält sich das Auto von Anna Prokajewa den ungeteerten, mit Schlaglöchern übersäten Weg den Hügel hinauf. Hier am Stadtrand des 30.000 Einwohner zählenden Orts Ljubotin nahe der Millionenstadt Charkiw, in sehr dörflicher Umgebung, hat sie ein Häuschen im Grünen erworben.
Doch bevor es in ihre baufällige Hütte mit dem wunderschönen Obstgarten mit den vielen Pflaumenbäumen geht, hält sie an einer kleinen Kompostieranlage an. Dass diese Anlage gebaut wurde, sei auch ihrer eigenen Hartnäckigkeit zu verdanken, habe sie doch durchgesetzt, dass auch Ljubotin sich dem Projekt „Zero Waste“ anschließe. „Hier können Bewohner mehrstöckiger Häuser, die keinen eigenen Garten haben, ihren organischen Müll entsorgen.“
Prokajewa ist mächtig stolz auf diese Anlage. Endlich habe man auch in einem Vorort von Charkiw den Sinn der Mülltrennung erkannt. Überhaupt nicht stolz ist dagegen eine andere Bewohnerin eines Häuschens an dem ungeteerten Weg. „Hören Sie mal“, faucht sie die Frau an, der Ljubotin seine Kompostieranlage zu verdanken hat. „Das Ding da stinkt ja sieben Kilometer gegen den Wind. Und bald haben wir hier auch noch eine Rattenplage. Ich jedenfalls schmeiß nichts in diesen komischen Kasten.“ Der Besucher allerdings kann keinerlei unangenehmen Geruch wahrnehmen.
Eine Insel der Ruhe – scheinbar
Wer einige Tage in Charkiw verbracht hat, findet in Ljubotin ein blühendes Leben vor. Hier gibt es keine fast menschenleeren Plätze, über die die wenigen Fußgänger mit Tunnelblick hasten, hier gibt es keine Häuser mit von Raketeneinschlägen herrührenden Kratern. Die Straßen scheinen ruhig zu sein wie vor dem Krieg. Nicht so wie in Charkiw, wo die wenigen Autos in einem Tempo dahinrasen, als hinge das eigene Überleben von der PS-Zahl ab. Hier rennt auch niemand einem Journalisten hinterher und droht ihm mit der Polizei, weil er ihn wegen seiner Kamera für einen Spion hält.
In Ljubotin sind die Häuschen klein und schmuck, haben hübsche Gärten. Die wenigen Cafés im Ort sind sogar geöffnet. Doch das Wichtigste ist: Hier gibt es schon seit Wochen keine Opfer mehr zu beklagen, die durch russische Raketen und die Artillerie ums Leben gekommen sind. Doch der Schein trügt.
Anna Prokajewa lebt seit einigen Jahren in Ljubotin. Von hier aus leitet sie ihre Umweltgruppe „Charkiw Zero Waste“, Charkiw ohne Müll. Die Mitglieder beraten Ortsverwaltungen über Probleme bei der Müllreduzierung, Kompostieranlagen und Recycling, sammeln selbst Müll ein und geben diesen anschließend zum Recycling. Sie sammeln Altkleider und was sonst noch wiederverwertbar ist in einem „Öko-Hub“. Und sie bauen kleine Müllsortiercontainer.
Mit dem Krieg änderten sich zunächst die Prioritäten. Nun sammelte man im Öko-Hub Hilfsgüter für die vielen Binnenflüchtlinge. Die Menschen waren im kalten Frühling geflohen und benötigten Sommerkleidung und Hygieneartikel.
Doch schon Anfang April kommt die Gruppe zu der Auffassung, dass Müllvermeidung gerade im Krieg wichtig bleibt. Recycling ist im Krieg vielfach zusammengebrochen. So besitzt die Stadt Charkiw eine hochmoderne Müllverarbeitung in ihrem Stadtviertel Derhatschi. Das Problem ist nun, dass Derhatschi im Norden von Charkiw liegt, der besonders häufig von der russischen Armee beschossen wird. Deshalb wird der Müll erst mal an einem anderen Ort zwischengelagert. Hinzu kommt, dass nach dem russischen Überfall viele Recycling-Firmen Charkiw verlassen haben, um in sichereren Orten eine neue Bleibe zu finden.
Der Bürgermeister und die Mülltrennung
Der Bürgermeister von Ljubotin, Leonid Lasurenko, residiert in einem unauffälligen zweistöckigen Häuschen in der Sloboschanska-Straße. Nur wenige Meter entfernt tauschen EinwohnerInnen vor einer Bäckerei mit einem Papierbecher in der Hand die neuesten Nachrichten aus.
Auch wenn Ljubotin inzwischen mehrere Wochen vor Raketenangriffen verschont geblieben ist, sei die Angst vor diesen Geschossen immer noch da, sagt der Bürgermeister. „Jede Nacht hören wir, wie die Raketen im benachbarten Charkiw einschlagen. Jeder Bewohner von Ljubotin kann Ihnen die genaue Uhrzeit nennen, wann es letzte Nacht wieder in Charkiw eingeschlagen hat. Ruhig schlafen kann hier niemand.“ Die Hälfte der BewohnerInnen von Ljubotin arbeite in Charkiw und sei somit dort tagsüber den russischen Angriffen ausgesetzt.
Was Leonid Lasurenko neben den Raketeneinschlägen und der Versorgung von 10.000 Binnenflüchtlingen beschäftigt, die in Ljubotin eine vorübergehende Bleibe gefunden haben, ist die Müllproblematik. Seine Stadt beteilige sich auch an der „Zero Waste“-Initiative mehrerer ukrainischer Ortschaften. Man sei gerade dabei gewesen, eine Müllentsorgungsanlage nach europäischen Standards zu bauen. Doch die sei von russischen Raketen zerstört worden.
Anna Prokajewa, Umweltschützerin
„Müllvermeidung ist kein Luxus, den wir uns im Krieg nicht leisten können“, sagt Anna Prokajewa. „Gerade jetzt müssen wir darauf achten, dass unsere Müllberge nicht so schnell wachsen.“ Denn je mehr Müll man habe, umso mehr müsse man auch Müll transportieren. Bei den aktuellen Benzinpreisen von umgerechnet 1,50 Euro ist Logistik eine teure Angelegenheit. Und die Fahrer seien bei diesen Mülltransporten wegen der russischen Raketenangriffe gefährdet.
Es sei doch überhaupt kein Problem, schimpft Prokajewa, organische Abfälle zu trennen und vor Ort zu kompostieren. Der organische Müll, der 50 Prozent des Abfalls ausmache, erzeuge Methangas. Und wenn eine Mülldeponie beschossen wird, könnte dieses Methangas einen gefährlichen Brand auslösen. „In Mariupol ist einmal eine Müllkippe beschossen worden. Die hat dann lange gebrannt. Gerade Hygieneartikel wie Windeln und Binden erzeugen, wenn sie Einmalprodukte sind, viel Müll.“
Und deshalb organisiert Prokajewa mit „Zero Waste Charkiw“ Kurse, in denen Windeln und Binden aus Stoff zur mehrfachen Verwendung hergestellt werden. „Die fanden teilweise in Luftschutzräumen statt“, sagt sie.
Viele Häuser im Gebiet Charkiw sind in den letzten Monaten in Schutt und Asche gebombt worden. Gleichwohl, sagt Prokajewa, müsse man jetzt schon darüber nachdenken, wie man diesen Schutt wiederverwerten könne, zum Beispiel als Kies oder Baumaterial.
Und dann spricht Prokajewa von den Kindern. Es sei doch besonders wichtig, die jüngste Generation auf Umweltthemen aufmerksam zu machen – gerade jetzt, in einer Zeit, in der Kinos und Vergnügungszentren geschlossen bleiben, die Kids nicht einmal mehr im Fluss schwimmen dürfen und eine nächtliche Ausgangssperre gilt, suchten viele Kinder Bibliotheken auf. „Und deswegen legen wir dort unser Informationsmaterial über Müllvermeidung aus. Und die Eltern tun alles, damit die Kinder zu unseren Veranstaltungen kommen. Wir vertreten mit unseren Umweltschutzideen europäische Werte. Und die Eltern wollen, dass sich unsere Kinder an europäischen Werten orientieren.“
Olexandr Solotarjew hilft überall, wo er kann
Als Olexandr Solotarjew seinen Stadtteil Romaschka betreten will, wird er an einem Checkpoint angehalten. Erst wenn er Geld für die Armee spende, dürfe er weiter, sagen vermummte Personen zu ihm. Doch Solotarjew lacht nur – und die Personen um den Checkpoint lachen mit ihm. Denn die Vermummten sind Kinder und die Waffen, die sie in ihren Händen halten, sind selbst gebastelt und bestehen aus Holz. Sie spielen Krieg. Olexandr Solotarjew lobt sie für ihren Patriotismus, gib ihnen eine symbolische Summe und dann darf er weitergehen.
Hier in diesem Stadtteil, der wie ein kleines Dorf ausschaut, ist Solotarjew zu Hause. Er ist Vorsitzender von „Ljubotin SOS“, einer Vereinigung von Freiwilligen aus Ljubotin. Eigentlich ist Solotarjew von Beruf Physiker und Geschäftsmann mit zahlreichen Aufenthalten und guten Kontakten nach Westafrika.
In Ljubotin gibt es viele Bauern. Aber auch andere Bewohner unterhalten zumindest einen eigenen Nutzgarten. Solotarjew hat vor seinem Haus einen kleinen Garten mit liebevoll gepflanzten Blumen, Kartoffeln, Gurken und Tomaten angebaut. Er ist zudem Chef einer Hausgemeinschaft. Diese Gemeinschaften verwalten sich selbst, regeln gemeinsam ihre Mieten und teilen die Kosten auf die Mieter auf. Und so wirbt Olexandr Solotarjew für die Unterstützung von alten und kranken Menschen und von den vielen Flüchtlingen. Und er bittet um die Unterstützung der ukrainischen Armee.
In Romaschka hat die Gruppe „Charkiw Zero Waste“ einen Container zum Sortieren von Müll aufgebaut. Solotarjew, der sich auch dort engagiert, fährt mehrmals die Woche nach Charkiw. Wenn er humanitäre Hilfe verteilt, legt er immer auch Wert darauf, dass keine Einwegprodukte darunter sind. Einwegteller etwa kommen bei ihm nicht in die Tüte.
Drei große Kisten Geschirr hat das „Öko-Hub“ von SOS Ljubotin im letzten Monat an die Flüchtlinge im Viertel verteilt. Dort gibt es auch Kleidung, Pfannen, Besteck, Matratzen, Decken, Lebensmittel, Medikamente und Schuhe, die die Bewohner des Stadtteils für die Flüchtlinge gespendet haben.
Um die Spendenbereitschaft zu erhöhen, organisiert die Gruppe Stadtteilfeste. Dort können die Flüchtlinge mit den Einheimischen reden und es gibt ein kostenloses Mittagessen. Ganz nebenbei werden dabei Sachspenden gesammelt. „Ljubotin ist eine sehr großräumige Stadt“, erklärt Olexandr Solotarjew. Ältere und kranke Menschen schafften es nicht immer, selbst das Öko-Hub oder die Stadtteilfeste zu besuchen. Deshalb hole man die mit einem Kleinbus ab.
Der Winter bereitet Sorgen
Einfach wird es diesen Winter nicht werden, das weiß auch der Bürgermeister von Ljubotin, Leonid Lasurenko. „Sollte zum Beispiel der Strom ausfallen, dann werden auch die Pumpen nicht mehr arbeiten. Ohne Pumpen aber keine Wasserversorgung“, sagt Lasurenko. „Dann müsste man Wasser anfahren lassen, Wasser aus den Brunnen im Dorf holen und Dieselgeneratoren einsetzen. Nur, für so eine Situation haben wir nicht genügend Dieselgeneratoren in der Stadt“, schiebt er nach. In diesen Tagen ist der Strom im Großraum Charkiw schon mehrfach ausgeblieben. Die russische Armee beschießt Elektrizitätswerke und Umspannstationen.
Für den Fall, dass die Heizung nicht mehr funktioniert, habe man Notunterkünfte in öffentlichen Gebäuden eingerichtet. Dort werde man dann behelfsmäßig Betten aufstellen und die Menschen mit Decken und Essen versorgen. Die Sammlung von Pellets und Holz habe schon begonnen, falls das Gas ausbleiben sollte.
Bürgermeister Lasurenko hat seine Stadt im Blick. Eine halbe Stunde nach dem Gespräch kommt seine Büroleiterin zur Bushaltestelle und fragt den Journalisten, ob ihm das lange Warten an der Haltestelle nicht Mühe mache. Gerne könne er auch im Rathaus in einer gemütlichen Ecke warten.
Anna Prokajewa wird in diesem Winter mit dem Wasser keine Probleme haben, so viel ist sicher. Nur wenige Meter von ihrem Haus entfernt befindet sich auf der Straße ein öffentlich zugänglicher Brunnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“