Abbau von Autoritäten: Vom Aufstieg des Starprinzips
Die Autorität fällt, wenn ihr obszönes Gesicht publik wird. Das Starprinzip aber ist resistent gegen Entzauberungen, wie Sebastian Kurz zeigt.
D er Umgang mit Fehlverhalten von öffentlichen Personen erfährt einen massiven Wandel. Derzeit kann man diesen Wandel in seiner ganzen Widersprüchlichkeit beobachten.
Auf der einen Seite gibt es eine erhöhte Sensibilität für Missstände – ob Korruption oder Machtmissbrauch, vornehmlich sexualisierten. Ob in der Filmwelt, im Sport, in der Kirche. Ob nun im Theater oder in der Medienwelt, wie jüngst in Österreich.
All diese Institutionen haben neben ihrem öffentlichen Gesicht noch eine Kehrseite. Dort herrschen die ungeschriebenen Gesetze, die geheimen Regeln, die diskreten Rituale. Ein Doppelsystem im Dienste der starken Figuren (in der Mehrheit Männer). All diese Institutionen sind gespalten: in eine offizielle Ordnung und in eine inoffizielle Überschreitung ebendieser Ordnung.
Die guten Sitten legen also nicht nur fest, was man darf und was nicht. Jeder neue Skandal zeigt, dass es neben erlaubt und verboten noch ein Drittes gibt: das tolerierte verbotene Verhalten. Der Sittenkodex hat gewissermaßen eine Vorder- und eine Hinterbühne. Auf der großen Bühne steht das offizielle, das ehrenwerte, das explizite Gesetz.
Die obszöne Kehrseite der Moralordnung
Auf der Schattenbühne aber vollzieht sich das, was der Philosoph Slavoj Žižek das „obszöne Gesetz“ nennt. Das sind jene ungeschriebenen, aber geduldeten Überschreitungen – die obszöne Kehrseite der Moralordnung. Die Gesellschaft definiert also, welches obszöne Verhalten sie im Verborgenen „toleriert“. Welche ihrer Schattenseiten erlaubt-verboten sind.
Lange Zeit störte der Missbrauch nicht das ehrenwerte Gesicht der Institutionen. Aber das war die Welt von gestern. Denn die Zeit dieser Figuren, die sich das Recht der tolerierten Übertretung anmaßen, scheint abgelaufen. Das hat einen generellen Abbau von Autoritäten zur Folge. Deren alte Unantastbarkeit schwindet. Jede Autorität kann, darf und wird in Frage gestellt.
Deren Fehlverhalten wird nicht mehr so leicht toleriert. Sonst würden die Stimmen der Opfer nicht gehört werden. Der obszönen Schattenseite wurde also ein Resonanzraum eröffnet, in dem sich das bisher stillschweigend Akzeptierte als Anklage vernehmbar machen kann.
Auf der anderen Seite aber haben wir gleichzeitig nahezu das Gegenteil. So gibt es etwa in Österreich den unerhörten Vorgang, dass gegen einen amtierenden Kanzler ermittelt wird. Kurz ist der achte Beschuldigte aus den Reihen seiner Partei, gegen den derzeit Ermittlungen durchgeführt werden. Der achte! In den meisten Fällen geht es um Korruption.
Unempfindlichkeit gegen Verfehlungen
Bei Kurz geht es um den Verdacht der Falschaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Man sollte denken, diese türkise ÖVP-Truppe habe sich restlos entzaubert. Auch und vor allem für jene, die ihrem „Zauber“ erlegen sind. Man sollte denken, die Zustimmungswerte stürzen ins Bodenlose. Aber weit gefehlt.
Denn neben der erhöhten Sensibilität gibt es – zugleich – auch eine völlige Unempfindlichkeit gegen Verfehlungen, eine Gleichgültigkeit gegen Verstöße – allerdings nur bei bestimmten Personen. Bei jenen Personen nämlich, denen es gelingt, sich in der Öffentlichkeit als Ausnahmefiguren, als Stars durchzusetzen.
Diesen verzeiht ihr Publikum vieles. Wenn sich einer als solch ein Einzelner durchgesetzt hat, wenn er von einem Teil des Publikums als ein solcher akzeptiert und akklamiert wird, dann können ihn auch Enthüllungen nicht entblößen.
Wir haben also einen Abbau von Autoritäten, der mit dem gleichzeitigen Aufstieg des Starprinzips einhergeht. Das Schrumpfen der Autorität qua Amt, qua Kompetenz (ein demokratischer Fortschritt) geht einher mit der Stärkung „herausragender“ Einzelner, mit einer Personalisierung also (ein antidemokratisches Prinzip schlechthin).
Die Autorität fällt, wenn ihr obszönes Gesicht publik wird. Das Starprinzip aber ist äußerst resistent gegen Entzauberungen. Wäre Kanzler Kurz eine Autorität (und mit ihm sein Kabinett) – er und sie alle könnten kaum unbeschädigt aus der Sache herauskommen. Das Starprinzip aber kann es im Falle einer Anklage ermöglichen, als Phoenix aus der Gerichtsasche aufzusteigen.
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