ARD-„Tatort“ aus Göttingen: Im guten Sinne ein Film zum Schämen
Der letzte „Tatort“ mit Florence Kasumba ist kein klassischer Krimi. Vielmehr ist es eine gesellschaftskritische Betrachtung der Lieferdienst-Branche.
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Letztes Wochenende auf einer Geburtstagsfeier in Berlin-Neukölln. Es geht auf einmal um die Frage, ob es okay ist, sich jeden Scheiß im Internet zu bestellen. Aber vor allem darum, passend zur feucht-fröhlichen Party, die „armen Zusteller“ schwere Weinpakete in den 4. Stock hochwuchten zu lassen. Man sieht es ja überall: Die Paketzusteller:innen haben viel zu viele Pakete dabei, sind immer in Eile, ein schlechtbezahlter Knüppeljob – und genau davon handelt der neue „Tatort“-Krimi aus Göttingen.
Auch hier steht am Anfang eine Geburtstagsfeier. Kriminaldirektor Gerd Liebig (Luc Feit) feiert im Polizeipräsidium seinen 60. Geburtstag mit Kollegen. Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) – einst strafversetzt nach Göttingen – und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) sind dabei, auch die Frau von Liebig, Tereza (Bibiana Beglau). Aber Mist, das Geschenk der Kolleg:innen für ihren Chef fehlt; es war online bestellt und noch nicht geliefert worden. Dabei war das eine Expressbestellung, kanzelt unfreundlich Nick Schmitz (Daniel Donskoy), Gerichtsmediziner und Ehemann von Anaïs, den gehetzten jungen Fahrer ab.
Der fährt wutentbrannt von dannen, wirkt völlig überarbeitet, ja, wie neben der Spur. Er rast ungebremst in eine Menschengruppe. Menschen kommen zu Tode. Lindholm und Co sind schnell am Unfallort, auch Tereza Liebig, die als Ärztin im Krankenhaus arbeitet. Der Fahrer liegt schwerverletzt im Koma. Die Ermittlungen gehen in verschiedene Richtungen: War es ein tragischer Unfall wegen Übermüdung? Eine Amokfahrt? Die beiden Ermittlerinnen sind sich da uneins (und eh nicht grün) und bleiben es bis zum Schluss.
Der Fahrer des Wagens heißt Ilie Balan (Adrian Djokić), er arbeitet für einen Paketdienst und ist Rumäne, so wie die anderen Kollegen auch. Er malocht als Subunternehmer für einen anderen Subunternehmer namens Mischa Reichelt (Christoph Letkowski) – der weist natürlich jede Schuld von sich. So wie der Chef des Paketdienstes: „Das sind nicht Angestellte unseres Unternehmens.“ Rein rechtlich stimmt das ja. Aber von der Moral her?
Göttingen-„Tatort“: „Geisterfahrt“, So., 11. Februar, 20.15 Uhr, ARD und in der ARD-Mediathek
Kein klassischer Krimi
Der Transporter wird untersucht: Die Bremsen sind stark abgenutzt. Und der Fahrer scheint im Wagen gewohnt zu haben. Und es gibt eine Plastikflasche mit Urin – die „Toilette“, denn für eine echte bleibt keine Zeit. „Ich hab ihm nicht mal Trinkgeld gegeben“, gibt sich Lindholm betroffen.
Sagen wir mal so: Dieser „Tatort“ ist kein klassischer Krimi, denn für uns Zuschauer ist die Sache relativ schnell klar. „Geisterfahrt“ liefert eine realistische Zustandsbeschreibung der Verhältnisse einer Branche, in der Ausbeutung an der Tagesordnung ist.
Deutlich wird, dass wir alle – als bestellende Kunden – Teil des Problems sind. Das ist ein klasse produziertes, weil genau beobachtetes, schonungsloses wie vielschichtiges Sozialdrama (einen Handlungsstrang lassen wir hier aus Spannungsgründen mal ganz außen vor). Ein Lehrstück über Abhängigkeiten jeglicher Couleur, über verletzte Gefühle, über psychische Abgründe, über Missstände in Gesellschaft und Familie, und ja, das ist ein Film zum Schämen.
Und ein starker Abgang eines Ermittlerinnenduos. Denn Lindholm, die Einzelgängerin, will zurück nach Hannover. Und Anaïs Schmitz bleibt in Göttingen und steigt die Karriereleiter hoch – doch davon haben Krimifans nichts. Kasumba, seit 2019 dabei, steigt leider aus dem „Tatort“ aus.
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