ADFC-Chef Masurat über Forderungen: „Verkehrstote nicht akzeptieren“
Der ADFC hat einen verkehrspolitischen Maßnahmenkatalog für den künftigen Senat vorgelegt. Landeschef Frank Masurat erläutert die Forderungen.
taz: Herr Masurat, Verkehrssenatorin Regine Günther hat am Donnerstag verkündet, dass sie für das Amt nicht mehr zur Verfügung steht. Haben Sie sich gefreut?
Frank Masurat: Ich habe ihr auf Twitter alles Gute gewünscht. Frau Günther hat sich sehr für die Verkehrswende eingesetzt. Sie ist für ihre Politik allerdings auch persönlich stark angefeindet worden, und ich kann verstehen, dass sie daraus die Konsequenz zieht.
Anfeindungen sind immer schlecht. Aber mit Kritik hat ja auch der ADFC nie gespart.
Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass in Sachen Radverkehr viel mehr umgesetzt worden wäre, oder um es anders auszudrücken: dass das Mobilitätsgesetz eingehalten wird. Das wird es aber nach wie vor nicht. Insofern sollte auch aus der künftigen Koalitionsvereinbarung klar erkennbar werden, wie es jetzt schneller gehen soll.
Ist Ihnen wichtig, dass ein Mensch mit fachlicher Erfahrung das Verkehrsressort übernimmt?
Wichtig ist vor allem, dass es jemand ist, der die schwierige Konstellation der zweistufigen Berliner Verwaltung in den Griff bekommt. Das ist die echte Herausforderung. Wir sind über Frau Giffeys Vorstellungen von der autogerechten Stadt natürlich überhaupt nicht glücklich, aber absolut Recht hat sie mit der Forderung, dass die Landesebene ein größeres Durchgriffsrecht auf die Bezirke erhält. Viele Maßnahmen müssen landesweit gesteuert werden, das fängt schon an mit Radinfrastruktur an Hauptverkehrsstraßen, die ja nicht an der Bezirksgrenze aufhören soll. Am besten ginge das mit einer landeseigenen Gesellschaft.
Der ADFC skizziert in seinem gerade vorgelegten Forderungskatalog an eine künftige Regierung die Vision, dass in fünf Jahren die 1.600 Kilometer Hauptverkehrsstraßen mit sicherer Radinfrastruktur ausgestattet sind. Und räumt gleichzeitig ein, dass bis jetzt gerade mal die Hälfte überhaupt eine Radinfrastruktur hat. Ist das dann nicht völlig utopisch mit den aktuellen planerischen Kapazitäten?
Frank Masurat
Jahrgang 1960, ist IT-Experte, seit 1989 Berliner und seit diesem Jahr Landesvorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC).
Es hat ja schon ein Aufbau des Personals stattgefunden, das muss aber noch deutlich mehr werden. Dass es grundsätzlich an den Menschen hapert, kann nicht sein – es gibt ja genügend Personal für die Planung von Autobahnen und andere Kfz-Infrastruktur. Und schon im Sondierungspapier von Rot-Grün-Rot steht klipp und klar, dass die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes und des Radverkehrsplans finanziell gesichert ist.
Einerseits soll der Umbau der Stadt nach den Vorgaben des Mobilitätsgesetzes massiv beschleunigt werden, andererseits werden ja auch für den Umbau zur klimaneutralen Stadt enorme planerische Kapazitäten benötigt. Kann das funktionieren?
Ich sehe darin keinen Widerspruch. Wenn wir bis 2030 klimaneutral werden müssen, heißt das ja auch, dass wir Rad-, Fuß- und Nahverkehr stärken müssen. Was uns Mut macht, ist ein Beispiel wie Friedrichshain-Kreuzberg, der Bezirk, in dem es tatsächlich vorangeht mit der Mobilitätswende. Da mangelt es auch nicht an Personal, und das liegt nicht daran, dass das Bezirksamt bessere Gehälter zahlen würde als andere. Sondern es herrscht dort ein anderes Miteinander, eine andere Führungskultur, ein klares Bekenntnis zur Verkehrswende, das die Menschen, die dort arbeiten, auch begeistert.
Sollte der nächste Senat überhaupt noch personelle Kapazitäten für Großprojekte wie den Bau neuer U-Bahn-Strecken einsetzen?
Es ist ja nicht so, dass es auf dem Arbeitsmarkt gar keine Planerinnen und Planer mehr gibt, die für die Beschleunigung der Verkehrswende eingestellt werden können. Wenn sich das allerdings ergeben sollte, wird man priorisieren müssen. Mir fallen da als erstes Projekte wie der Weiterbau der A100 ein, die wegfallen können.
Das ADFC-Papier fordert, das Pop-up-Prinzip quasi flächendeckend einzusetzen. Warum?
Es ist eine agile, innovative Vorgehensweise, wie sie auch viele private Konzerne längst einsetzen. Wir finden gut, dass mit Pop-up-Infrastruktur komplizierte Verwaltungsprozesse beschleunigt werden können. Man kann eine Maßnahme relativ schnell testen, gegebenenfalls korrigieren und erst am Ende die Bagger kommen lassen.
Ist das nicht auch eine riskante Strategie? Pop-up-Infrastruktur ist ja letztlich prekär und nicht wirklich sicher.
Die Infrastruktur, wie sie jetzt ist, ist doch alles andere als sicher! Zurzeit akzeptieren wir, dass einmal pro Woche ein Mensch im Berliner Straßenverkehr getötet wird. Und das muss sich ändern.
Auch der ADFC bekennt sich zur „Vision Zero“, also zu dem Ziel, dass es künftig weder Tote noch Schwerverletzte im Straßenverkehr gibt. So richtig das ist – wird es nicht in einer so großen Stadt, in der immer mehr Menschen Rad fahren, immer zu fatalen Unfällen kommen? Berlin ist nicht Oslo.
Das stimmt, und trotzdem finde ich es richtig, dieses Ziel gesetzlich zu verankern und alles zu tun, damit diese Vision erreicht wird. Ich will keinen einzigen Verkehrstoten akzeptieren. Und sobald wir weniger Autos in der Stadt haben, wird es auch weniger Tote und Schwerverletzte geben. Frustrierend ist doch, dass alle nötigen Maßnahmen seit Jahrzehnten bekannt sind, aber nicht umgesetzt werden. Ob es stadtweit Tempo 30 ist oder der sofortige Umbau von gefährlichen Kreuzungen.
Bei generellem Tempo 30 ist Berlin auf den Bund angewiesen.
Richtig, das könnte der Senat im Moment auch dann nicht anordnen, wenn er es wollte. Deshalb muss er im Bundesrat eine Reform der Straßenverkehrsordnung vorantreiben und solange die Möglichkeiten nutzen, die es jetzt schon gibt, um die Geschwindigkeit auf Hauptverkehrsstraßen stärker zu begrenzen. Beim Umbau gefährlicher Kreuzungen kann das Land sein Vorgehen dagegen sofort ändern. Jetzt ist es so, dass die Straße ein paar Stunden nach einem schweren Unfall wieder freigegeben wird. Wir sagen: Wenn offensichtlich ist, dass die Infrastruktur für den Unfall mitverantwortlich war, darf die Kreuzung erst freigegeben werden, wenn dort auch etwas geändert wurde – wie am Alexanderplatz.
Sie meinen die Kreuzung Otto-Braun-Straße/Karl-Marx-Allee, wo 2019 eine Radfahrerin von einem abbiegenden Lkw getötet wurde.
Dort haben wir nach langen Diskussionen mit dem Verkehrsstaatsekretär erreicht, dass die Kreuzung tatsächlich umgebaut wurde und bis dahin ein Rechtssabbiegeverbot erteilt wurde. An das sich leider auch nicht alle gehalten haben – da gilt leider oft die Regel „Navi schlägt Verkehrszeichen“. In solchen Fällen wird es künftig nötig sein, ein Verbot auch mit permanenten Kontrollen durchzusetzen.
Zu Ihren Forderungen gehört auch, den Autoverkehr in den kommenden zehn Jahren zu halbieren. Dass das möglich sein soll, da fehlt mir leider der Glaube.
Wir haben heute trotz aller Lippenbekenntnisse immer noch einen wachsenden Autoverkehr, jedes Jahr kommen 20.000 bis 30.000 Kfz dazu. Davon müssen wir unbedingt wegkommen. Richtig ist, dass die Möglichkeiten des Landes auch bei diesem Thema eingeschränkt sind. Alle Verkehrswissenschaftler sagen, dass es für eine grundlegende Verhaltensänderung Push- und Pull-Faktoren braucht. Sprich, wir müssen alles erleichtern, was die Stadt für die Menschen und das Klima besser macht – und das, was dem entgegensteht, unangenehmer und schwieriger machen. Dazu gehört, die Zahl der Parkplätze massiv zu reduzieren und die verbleibenden nicht mehr kostenlos zur Verfügung zu stellen. Auf der anderen Seite muss auch der ÖPNV deutlich attraktiver werden.
Mehr U-Bahnen, wie es Frau Giffey will?
U-Bahnen haben eine lange Vorlaufzeit, deren Klimaeffekt braucht Jahrzehnte. Wir brauchen aber Maßnahmen, die viel schneller wirken. Da bieten sich andere Verkehrsmittel an, gerade auch Fuß- und Radverkehr. Das Sondierungspapier fordert übrigens, dass alle Menschen mobil sein können. Das sehen wir genauso. Es ist aber heute nicht der Fall, weil wir dem Kfz-Verkehr viel zu viel Platz einräumen und damit andere Menschen einschränken.
Was die bessere Verzahnung von ÖPNV- und Radverkehr angeht – die fordern Sie auch. Zum Beispiel wollen Sie, dass die BVG die Radmitnahme in Bussen in Randbezirken ausprobiert. Wäre es nicht auch sehr sinnvoll, dass AbokundInnen von BVG und S-Bahn ein Fahrrad mitnehmen können, ohne dafür zu bezahlen?
Es ist eben eine Extraleistung, die die Verkehrsbetriebe da erbringen, da können wir schon nachvollziehen, dass das einen Preis hat. Andererseits spricht sicher viel dafür, das etwa für Leute mit Abo attraktiver zu machen. Diese Möglichkeit gab es ja früher schon einmal, sie wurde dann im Rahmen einer Tarifänderung abgeschafft.
Ein großes Problem für viele Radfahrende sind die vielen Diebstähle. Was kann man aus Ihrer Sicht dagegen unternehmen?
Das ist in der Tat ein Riesenthema. Jeden Tag werden im Schnitt um die 80 Räder gestohlen, bei einer Aufklärungsquote im homöopathischen Bereich. Gleichzeitig geben die Leute heute deutlich mehr Geld für ein Rad aus. Ein Mittel ist hier der Bau sicherer Radabstellanlagen, vor allem an ÖPNV-Haltestellen, auch von Fahrradparkhäusern. Aber das Thema muss auch von der Polizei viel ernster genommen werden nehmen, sie muss Ermittlungsgruppen einsetzen, um gegen den oft organisierten Diebstahl vorzugehen.
Zu guter Letzt fordern Sie, an einer Berlin Uni eine Fahrradprofessur einzurichten. Klingt schick, aber was wären denn da die Inhalte?
So etwas gibt es schon an mehreren deutschen Unis! Wir sähen darin eine große Chance, dass die Wissenschaft zur Verkehrspolitik aus Radperspektive Stellung nimmt. Zwischen Politik und Wissenschaft gibt es auch bei diesem Thema heute noch eine große Diskrepanz.
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