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75 Jahre Rio ReiserEin Ständchen für Rio

Am 9. Januar wäre Rio Reiser 75 Jahre alt geworden. Fast 30 Jahre ist der Sänger nun tot und immer noch besuchen ihn die Fans an seinem Grab in Berlin.

Rio Reiser in Kreuzberg, 1986 Foto: Ann-Christine Jansson

Schon den ganzen Tag kreisen seine Gedanken um Rio Reiser. „Eigentlich hatte ich ja gar nichts persönlich mit ihm zu tun, nichts, null“, sagt Jörg Dahlbeck. Trotzdem ist er aus Ostwestfalen rund 375 Kilometer dorthin gefahren, wo Rio Reiser unter der Erde liegt.

Rio Reiser, mit bürgerlichem Namen Ralph Christian Möbius, starb 1996 mit nur 46 Jahren an inneren Blutungen. Für viele ist diese raue Stimme, von der Dahlbeck sagt, sie unter Tausenden wiederzuerkennen, längst vergessen. Bekannt wurde Rio Reiser als Sänger der westdeutschen Rockband Ton Steine Scherben, mit Liedern wie dem „Rauch-Haus-Song“, „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und „Halt dich an deiner Liebe fest“.

Vor Dahlbeck erhebt sich das große Tor des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs in Berlin-Schöneberg. Mit Ehrfurcht späht er auf das Gelände dahinter. Er stand zwar schon etliche Male am Grab von Rio Reiser, doch nie musste er dafür auf einen Friedhof.

„Manchmal habe ich stundenlang am Grab gesessen, ein bisschen Gitarre gespielt – und mein Sohn, damals noch ganz klein, tanzte um Rios Grabstein“, erinnert er sich. Es ist nicht lange her, da konnten die Fans von Rio Reiser an seinem Grab Urlaub machen.

75 Jahre Rio Reiser

Der Sänger

Rio Reiser – geboren am 9. Januar 1950 als Ralph Christian Möbius in West-Berlin, gestorben am 20. August 1996 in Fresenhagen – war bei Ton Steine Scherben zusammen mit dem Gitarristen R. P. S. Lanrue als Autorenteam schon so was wie die deutsche Entsprechung von Jagger/Richards. Und popmusikalisch eben der von ihm besungene „König von Deutschland“.

Die Erinnerung

Unter dem Motto „Halt dich an deiner Liebe fest“ feiert man am 8. Januar in der Berliner Volksbühne 75 Jahre Rio Reiser. Bei der Geburtstagsparty unter der Schirmherrschaft von Staatsministerin Claudia Roth (die ja mal Scherben-Managerin war) spielen und singen unter anderem Alexander Scheer, Bernadette La Hengst und Ton Steine Scherben.

Der heilige Gral

14 Jahre lang ruhte Rio Reiser nämlich unter einem Apfelbaum in seinem eigenen Garten in Fresenhagen, Nordfriesland. Bis er starb, lebte Rio Reiser dort auf einem Künstlerhof, den er Mitte der 70er mit seiner Band bezogen hatte. Ihn dort zu beerdigen, war nur durch eine Sondergenehmigung möglich. Rios Haus wurde zu einer Gedenkstätte mitsamt Übernachtungsmöglichkeiten. „Fresenhagen war so was wie der heilige Gral für uns Fans“, sagt Dahlbeck.

Als das Grundstück 2011 finanziell nicht mehr zu halten war, musste Rio Reisers Grab umziehen – auf einen stinknormalen Friedhof. In Berlin. Der Stadt, in der er mit seiner Band einst zur Ikone wurde. Für die Fans war es schwer, das alles zu verdauen: die Exhumierung ihres Idols, das Ende von Fresenhagen.

Dahlbeck geht durch das Friedhofstor, vorbei an der Eingangstafel, auf die jemand mit weißem Stift „RIP RIO“ gekritzelt hat. Langsam schreitet er die Mittelallee des Friedhofs hinauf.

Eine Weile blickt er wortlos auf das Grab, das unter einer Schneedecke kaum zu erkennen ist. Nichts an diesem Ort strahlt die Lebendigkeit aus, die er von Rios alter Ruhestätte gewohnt ist. „Alles ist so durchdrungen von Tod und Trauer“, sagt er.

Anstelle von Blumen hat er Rio ein kleines Ständchen mitgebracht. Dahlbeck lässt seinen Blick über den Friedhofsweg wandern. Niemand in der Nähe, also zieht er sein Smartphone aus der Tasche und öffnet den Text seines liebsten Rio-Reiser-Songs, „Weit von hier“. Noch einmal holt er Luft, dann beginnt er zu singen – so laut, dass seine Stimme selbst tief in der Erde, wo Rio ruht, ankommen müsste.

Aber warum das alles? Was zieht Fans wie Jörg Dahlbeck fast 30 Jahre nach Rio Reisers Tod immer noch an dessen Grab?

Verehrung hat was Religiöses

Anruf bei Norbert Fischer, Kulturwissenschaftler an der Universität Hamburg, der zum Trauerprozess von Musikfans geforscht hat. „Diese Verehrung von uns unbekannten Personen, von Stars, hat ja auch etwas Religiöses an sich.“ Er erklärt, dass die Verbindung zwischen Fans und ihren Idolen oft eine außergewöhnliche emotionale Tiefe aufweist – ähnlich wie die Bindung zu Menschen, die uns aus anderen Gründen nahe stehen. Besonders stark sei diese Verbindung, wenn uns die Musik in entscheidenden Lebensmomenten begleitet hat. So wie Menschen die Gräber ihrer Angehörigen besuchen, zieht es Fans also zu den Gräbern ihrer Idole, wenn sie für ihr Leben eine wichtige Rolle spielen.

Dahlbeck greift nach einem kleinen Schild, das in der Mitte vom Grab an einem kahlen Strauch baumelt. Es zeigt das Albumcover von „Keine Macht für Niemand“. „Es ist ein bisschen so, als wenn man sich selbst noch mal begegnet“, sagt er. 1979, als 15 Jahre alter Lehrling, habe er sich diese Platte im Sonderangebot gekauft. Es war seine erste Platte von Ton Steine Scherben.

Rios Texte seien für ihn damals wie eine Offenbarung gewesen, sagt Dahlbeck. „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“, hörte er Rio in einem seiner Lieder singen. Zeilen wie diese hätten ihm Mut gemacht. Fest entschlossen, nicht das bürgerliche Leben seiner Eltern zu führen, zog er in seiner Heimatstadt Bochum in ein besetztes Fabrikgebäude. 1981 spielten dort Ton Steine Scherben. Die Luft war so schlecht, dass man keinen eigenen Joint mehr brauchte, sagt Dahlbeck. Wie oft er Rio Reiser auf der Bühne erlebt hat, weiß Dahlbeck nicht genau, er schätzt aber 20 bis 30 Mal.

Während er all die Erinnerungen durchgeht, die er mit Rios Musik verbindet, denkt er auch an den Tod einer Jugendfreundin, die Rio ebenso verehrte wie er. „Seine Lieder rufen immer etwas wach, manchmal ist es dieses Kämpferische, manchmal aber auch dieses abgrundtief Traurige“, sagt er. Jörg Dahlbeck verabschiedet sich von Rio Reiser.

Gerade wenn es wärmer wird, kommen viele Leute, fragen nach ihm, setzen sich hin, klönen rum und spielen Gitarre

Horst Lusker, Mitarbeiter des Friedhofs

Horst Lusker, Mitarbeiter des Friedhofs, bleibt am Grab von Rio Reiser stehen. Er weiß genau, welche Szenen sich hier regelmäßig abspielen: „Gerade, wenn es wärmer wird, kommen viele Leute, fragen nach ihm, setzen sich hin, klönen rum und spielen Gitarre – das passiert schon recht häufig.“ Neben dem Grab der Gebrüder Grimm hier sei es Rio Reisers Grab, das am stärksten nachgefragt sei, sagt Lusker, „teilweise sind es ganze Touristengruppen, die zu diesen Gräbern wollen“.

Schon am nächsten Tag reiht sich eine Fünfergruppe um das Grab. „Zum Glück ist unsere Tafel noch da.“ Matthias Leyh deutet auf die Schieferplatte in der Ecke vom Grab, darauf die Worte „Viele Jahre ohne ein Wort, graue Schatten ferner Ort. Viele Jahre weg von hier, Rio, deine Lieder fehlen mir.“ Vor zwei Jahren habe er sie hier platziert. „So etwas hält länger als Blumen und zeigt den Leuten: Wir sind für Rio da und besuchen ihn immer gerne.“

Verschiedene Karrierestufen von Fans

Fan-Sein, das umfasst ein breites Spektrum. Der Soziologe Thomas Schmidt-Lux von der Universität Leipzig unterscheidet verschiedene „Karrierestufen“ von Fans. Matthias und seine Frau Ines Leyh dürften wohl zu den „hochspezialisierten Fans“ gehören, die über das größte Wissen und die besten Ressourcen verfügen, um ihre Liebe als Fans voll auszuleben.

Die beiden sind Stammgäste am Grab von Rio Reiser. Zwei- bis dreimal im Jahr pilgern sie aus Thüringen hierher, dieses Mal mit Tochter Jona, ihrem Freund Norman und Kumpel Mark Oliver Rosenbusch, genannt Rosi.

Einen Moment halten alle im Halbkreis inne. „Da kommen die Erinnerungen an Rios letztes Konzert hoch, zwei Wochen vor seinem Tod“, unterbricht Rosi die kurze Stille. Es war das einzige Mal, dass Rosi, Matthias und Ines Rio live erleben konnten. Vor der Wende gab es in ihrer DDR-Heimat keine Möglichkeit dazu. Rios Musik erreichte sie nur über Verwandte im Westen, die ihnen Kassetten und Platten in den Osten schickten. Und das erst relativ spät, Ende der 80er Jahre. „Deswegen zieht es uns umso mehr zu Rios Bandmitgliedern, die noch immer Musik machen“, sagt Matthias.

In diesem Jahr haben die Leyhs schon sieben Konzerte von Rios früherer Band besucht, immer erste Reihe. „Unsere Töchter und deren Partner sind halt so mit reingerutscht, das zieht uns zusammen“, sagt Matthias. Alle nicken freudig, nur Norman wirkt etwas unentschlossen. Jona hat ihren Freund am Arm eingehakt, sie sagt: „Meine Eltern haben mich immer auf alle Scherben-Konzerte mitgenommen, die Lieder liefen bei uns rauf und runter, das war unsere Kindheit.“

Mittlerweile pflegen die Leyhs sogar persönlichen Kontakt zu Rios Angehörigen und den Scherben-Mitgliedern. „Man lernt sich eben über die Jahre kennen, schreibt sich mal hin und her“, sagt Ines Leyh. Ihr Mann sagt: „Ich glaube, das wünscht sich jeder Fan. Es soll ja nicht in Stalking ausarten. Aber es ist schon schön, von sich behaupten zu können, die Scherben persönlich zu kennen.“

wochentaz

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Aber wie stand Rio Reiser zu Lebzeiten überhaupt selbst zu seinen Fans?

Etwa sechs Wochen zuvor, am Totensonntag, setzt sich ein älterer Mann mit langem schwarzem Mantel und Sonnenbrille auf die Bank vor Rio Reisers Grab. Es ist sein Bruder Gert Möbius.

Rio brauchte nicht ständig Fans um sich

Rios Bruder Gert Möbius

„Rio brauchte nicht ständig Fans um sich“, sagt Gert Möbius. Kamen Fans nach Fresenhagen und fragten, ob Rio da ist, habe sein Partner manchmal einfach behauptet, er sei nicht da. „Er hätte ja auch keinen Song mehr schreiben können, wenn er sich dauernd nur mit Fans unterhalten hätte“, sagt Möbius. Erstaunlich findet er, dass sich der Fankult so lange gehalten hat. Und dass die revolutionären Aussagen seiner Texte bis heute wirken.

Rio Reiser hat längst Kultstatus. In Berlin, aber auch darüber hinaus. Jedes Jahr im August erinnert eine musikalische Dampferfahrt über die Spree und den Landwehrkanal an seinen Todestag. Die Stadt Berlin hat ihn mit der Ehrengrab-Plakette gewürdigt, und vor zwei Jahren wurde dann noch ein Platz im Herzen Kreuzbergs nach ihm benannt. Sogar ein eigenes Musical über Rio Reiser gibt es bereits.

An diesem Tag sieht man viele Menschen an Rio Reisers Grab vorbeirauschen. Ab und zu bleibt ein Grüppchen stehen und mustert den verwitterten Grabstein. „Mama, wer war Rio Reiser?“, fragt ein Kind seine Mutter. „Der König von Deutschland“, antwortet sie, dann ziehen sie weiter.

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7 Kommentare

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  • Rio Reiser. Steht für längst vergangene Zeit, für ein nicht mehr existierendes West-Berlin, für UfA und Sponti. Und er wird von einigen gealterten Romantikern noch immer verehrt. Vielleicht als Erinnerung an deren Jugend. Oder auch dafür, was er verkörperte.







    Ich stelle mir einen Tag mit ihm in der Gegenwart vor. Seine Helden aus dem Straßenkampf fordern höhere Rüstungsausganen, Zensur und politische Korrektheit.



    Wäre er nicht schon tot, ihm würde wohl das Herz brechen.

  • Mir geht es da inzwischen wie bei der Internationalen: Da bleiben einem die Worte im Hals stecken. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist einfach so groß geworden, dass das nur noch traurige Nostalgie ist. Von Rios Fans leben auch immer weniger, und die sterben schneller als neue hinzukommen.

    So langsam keimt bei mir der Verdacht auf, dass unser ganzer hedonistischer Individualismus mit dem gefühlsbesoffenen Dekor eines hehren Anspruchs vielleicht nur ein dekadenter Luxus war, den wir uns in einer historischen Ausnahmesituation zwischen vorübergehendem wirtschaftlichem Wohlstand und im Kalten Krieg eingefrorenem Frieden ganz egoistisch leisten konnten und auch geleistet haben.

    Heute zeigt sich so langsam, dass das alles nur Träume waren, die auch Träume geblieben sind, weil alle nur an ihren Spass gedacht haben und dabei so taten, als würden sie die Welt verbessern. Viel ist dabei nicht herausgekommen.

    Aber schöne Musik, keine Frage. Hören kann ich sie aber nicht mehr. Danke für den Artikel.

  • What should I say!

    Der Tag ist aus



    www.youtube.com/wa...lvIHJlaXNlcg%3D%3D



    “… Der Traum ist aus



    Der Traum ist aus



    Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird



    Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird



    Dass er Wirklichkeit wird - Wirklichkeit

    Have a good törn Rio

    • @Lowandorder:

      Däh&Zisch - Mailtütenfrisch schlenzt ein

      “"Es ist vorbei



      Bye bye, Junimond



      Es ist vorbei



      Es ist vorbei



      Bye bye



      Doch jetzt tut's nicht mehr weh "







      Er war ein Romantiker.“

      Liggers - was soll ich sagen - anschließe mich

    • @Lowandorder:

      Hola 🙀🥳 & Asche auf mein Haupt.

      Der Traum ist aus

      unterm—— 💐 🎹 - btw -



      Du sollst nicht zwischen Tür&Angeln senden;))

  • Man sollte einen Menschen wertschätzen können, ohne ihn mit einer Projektion zu verwechseln. Lieber ein Spagettisieb aufsetzen als jemanden vergöttern.



    Rio Reiser hat dabei auch vor seiner Solo-Pop-Zeit interessante Texte geschrieben und m.E. auch mal weniger interessante.



    Rio, der Kampf geht weiter!

    • @Janix:

      „interessante Texte geschrieben und m.E. auch mal weniger interessante. " - Genau wie Bob Dylan.