68er-Film im Historischen Museum: Die rote Fahne über Schöneberg
Ist es nur ein Spiel mit Farbe oder doch der Probelauf zur Revolution? Gerd Conradts 68er Film „Farbtest. Die rote Fahne“ hat es ins Museum geschafft.
Bei älteren Filmen aber muss es nicht die Handlung sein, die einen als erstes in Anspruch nimmt. Man schaut sie auch deswegen gern, weil man Dinge zu sehen bekommt, die es so vielleicht gar nicht mehr gibt. Was man zu der Zeit, als der Film gedreht wurde, gern getragen hat (Trenchcoat!). Die Autos früher. Massenhaft VW-Käfer sind zu sehen, gelegentlich ein Ami-Schlitten. Und man sieht, dass das Berlin damals eine recht graue Angelegenheit war, und das liegt nicht nur an der regennassen Straße, die immer viel Raum im Bild einnimmt.
Passanten allerdings sieht man eher weniger, und die wenigen scheint das Geschehen gar nicht sonderlich zu irritieren, sie schauen kurz und gehen ihrer Wege.
Die Handlung: Lässt sich in einem Satz zusammenfassen und schmeckt nach Umsturz: In dem Film laufen Menschen in einer Stafette mit einer roten Fahne durch Berlin hin zum Rathaus Schöneberg, wo die Fahne auf genau dem Balkon gehisst wird, wo John F. Kennedy wenige Jahre zuvor verkündete: „Ich bin ein Berliner.“
Die Besonderheit
Rote Fahnen gibt es in der „Roads not Taken“-Schau reichlich zu sehen. Weil sie halt letztlich die Fahne des 20. Jahrhunderts ist. Wie sie da allerdings im Bewegtbild 12 Minuten lang durch Berlin flattert, macht den „Farbtest“ doch zur Besonderheit.
Die Zielgruppe
Der Film ist wirklich allen zu empfehlen, Lauffreunden, Fahnenliebhaberinnen, Geschichtsinteressierten ... Und das Drumherum eigentlich auch. Berlintourist*innen bekommen in dieser Schau im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums wenigstens einige Schlüsselmomente deutscher Geschichte serviert. Denn die große Übersichtsausstellung des Museums im Zeughaus ist wegen Baumaßnahmen derzeit geschlossen.
Hindernisse auf dem Weg
Die trügerische Sicherheit, dass man ja noch Zeit hat: bis 24. November 2024 ist „Roads not Taken“ zu sehen.
„Farbtest. Die rote Fahne“ ist der Titel des Films, der da an einem grauen Februartag 1968 in Westberlin gedreht wurde. Derzeit ist er in der Ausstellung „Roads not Taken“ im Historischen Museum Berlin (DHM) zu sehen. Und weil der Regisseur jetzt natürlich keineswegs zufällig dort gerade neben einem steht, will man ihn gleich fragen: „Herr Conradt, war das ein Studentenulk?“
Ein Happening für die 68er
Gerd Conradt überlegt kurz und schüttelt den Kopf. „Für mich ist es Kunst, ein Happening“, sagt er. Und: „Es ist eine Provokation, na klar.“
Entstanden ist der Film im Kamerakurs von Michael Ballhaus an der damals noch jungen Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB), der „Farbtest“ bezieht sich schlicht auf den Umstand, dass die Studierenden hier mal mit Farbfilm arbeiten durften. Die rote Fahne war aber natürlich ein Aufreger in einer politisierten Zeit: der Krieg in Vietnam, der erschossene Benno Ohnesorg, die Radikalisierung der Studentenbewegung, die man dann ja im Schlagwort „1968“ fasste, und das war schon, was Conradt antrieb.
Einen „authentischen Beitrag“ zur 68er Bewegung wollte er machen, sagt er, mit seiner Rathauseroberung. Und dass die Fahne trotz der gleichen roten Farbe doch recht unterschiedlich wehte zu dieser Zeit in Ost und West (wo man immer mal dieses „Geh doch rüber“ hörte), wusste Conradt auch. Seine Kindheit hatte der 1941 geborene Regisseur, Kameramann und Autor in der DDR verbracht. Wichtiger aber war, sagt er, dass er eine Zeitlang in Italien gelebt hatte, wo rote Fahnen damals mit der starken kommunistischen Partei allgegenwärtig waren und deswegen „normal“. Alltag eben.
Auch so eine „Normalität“ im Film: Alle 14 Fahnenträger, nur Männer. Der Farbtest ist ein Männerfilm. Ist in der Zeit damals mit den ganzen Studentenführern (ohne *innen) aber gar nicht aufgefallen, auch Gerd Conradt hat es erst hinterher gemerkt. Und in der DFFB, aus deren Umfeld er seine Staffelläufer rekrutierte, fanden sich 3 Frauen unter 35 Studierenden. Conradt wurde mit anderen Studenten nicht zuletzt wegen des „Rote Fahne“-Films und anderen politischen Aktionen aus dem Studium geschmissen. „Wir waren auch tierisch dogmatisch“, sagt Conradt.
Der Farbtest in der Dauerschleife
„Es hätte auch anders kommen können“ ist der Untertitel der „Roads not Taken“-Schau mit Blick auf Wendepunkte deutscher Geschichte wie Berlinblockade und Mauerbau.
Der Farbtest ist Teil des Kabinetts zur Stalin-Note, dem Angebot Stalins 1952 an die Westmächte für Verhandlungen über ein wiedervereinigtes, neutrales Deutschland. Ob das ein ernst gemeintes Angebot war oder eher ein Störmanöver, um die Westintegration der BRD zu behindern, wird weiter diskutiert. Stefan Paul-Jacobs, einer der Ausstellungskuratoren, schätzt am Film, wie er die weit verbreitete Angst vor „den Russen“ und dem Kommunismus ironisch aufnimmt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass „Farbtest. Die rote Fahne“ sein Lieblingsfilm ist, möchte Gerd Conradt nicht sagen. Aber er schaut ihn gern. „Es sind lauter kleine Theaterstücke, lauter Performances.“ Täglich zu betrachten in Dauerschleife im DHM bis November 2024.
Auch der junge Gerd Conradt ist dabei zu sehen als einer der Fahnenträger. Er trägt einen schwarzen Mantel und einen gelben Schal. Über dem Kopf weht die rote Fahne. Ein Farbtest, mit den deutschen Farben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen