60. Jahrestag des Eichmann-Prozesses: Der Prozess, der Geschichte schrieb
Vor 60 Jahren begann in Jerusalem das Verfahren gegen Adolf Eichmann. Der Strafprozess schuf die Grundlagen für eine Verfolgung vieler NS-Straftäter.
Die Massenvernichtung der Juden im Nationalsozialismus ist Geschichte. Aber bedeutet dies zugleich, dass es sich um eine historische Debatte handelt, also um die Rückschau auf ein abgeschlossenes Kapitel? Dieser Versuch der Historisierung ist in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach unternommen worden – und er bleibt falsch.
Denn einerseits sind die antisemitisch geprägten Wertvorstellungen, die den Kern des NS-Regimes ausmachten, ja keineswegs verschwunden, sondern treten in jüngster Zeit sogar verstärkt auf. Versatzstücke aus dem Katalog der NS-Rassenideologie werden gerade von Jüngeren verbreitet.
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Andererseits manifestiert sich die Auseinandersetzung um die Verbrechen der Nazis bis heute in die letzten strafprozessualen Verfahren gegen mutmaßliche NS-Täter, deren Taten nach einer Sühne verlangen, auch wenn die Täter inzwischen zu Greisen geworden sind. Und schließlich wäre es blanker Hohn, wollte man die letzten Überlebenden des Holocaust, aber auch ihre Nachfahren und die Ermordeten vergessen machen.
Die NS-Geschichte ist also immer noch reichlich lebendig, auch wenn ihre Aufarbeitung inzwischen selbst zur Geschichte zählt. Diese hat diverse Wendepunkte erlebt, etwa die alliierten Kriegsverbrecherprozesse in den späten 1940er Jahren, das bleierne Wegschauen in den 1950ern oder die späte Bereitschaft zur Strafverfolgung im ausgehenden Jahrhundert in der Bundesrepublik. Auch diese Aufarbeitung ist also keine abgeschlossene Angelegenheit.
Prozessbeginn 11. April 1961 in Jerusalem
Der wohl wichtigste Wendepunkt jährt sich in diesen Tagen zum 60. Mal. Am 11. April 1961 begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Judendeportationen. Man kann den Prozess heute auf Youtube verfolgen und in allen Einzelheiten in Büchern nachlesen.
Aber hier soll es nicht um das Verfahren selbst gehen, das am 15. Dezember 1961 mit der Verurteilung Eichmanns zum Tod endete, sondern um die mittelbaren Folgen. Sie zeigen, wie Geschichtsaufarbeitung in der Lage sein kann, Gesellschaften zu verändern.
Um mit den Folgen für die Bundesrepublik zu beginnen: Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte bekanntlich versucht, Eichmann in Deutschland vor Gericht zu stellen. Das scheiterte, grob zusammengefasst, an den Widerständen in Politik und Justiz, die damals noch zu erheblichen Teilen mit NS-belastetem Personal besetzt waren.
Nicht verhindern konnte dieser Personenkreis aber, dass in unmittelbarer Folge des Verfahrens in Jerusalem und der weltweiten Schlagzeilen darüber die Justiz ihr Vorgehen änderte. Verfahren wurden nicht länger fast ausnahmslos niedergeschlagen, Massenmörder nicht per se freigesprochen, die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen nicht länger lahmgelegt.
Verfahren führt zu Auschwitz-Prozessen
Eichmann in Jerusalem führt auf direktem Wege zu den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt, zu Verfahren gegen die Täter von Majdanek, Treblinka und Sobibor, und diese wiederum mündeten in eine öffentliche Debatte über den Umgang mit der jüngsten Geschichte der Deutschen. Man muss kritisieren, dass die bundesdeutschen Gerichte immer noch zu langmütig mit den NS-Verbrechern umgingen. Aber fortan konnte diese Vergangenheit nicht länger totgeschwiegen werden. Und das gilt bis heute.
Die Deutschen hatten sich in ihrer großen Mehrheit 1960 darauf verständigt, dass die eigentlichen Täter Hitler, Himmler, Göring, Goebbels erstens tot und zweitens Monster gewesen seien, die höchstens im Namen des deutschen Volkes, aber keineswegs mit dessen Einverständnis gehandelt hätten. Diese Legende war äußerst bequem, sprach sie doch 99,9 Prozent der Bevölkerung von aller Schuld frei.
Und nun saß in Jerusalem ein deutscher Bürokrat auf der Anklagebank, der sich als subalterner Befehlsempfänger präsentierte – auch wenn er das nicht war –, ein Repräsentant der Banalität des Bösen (Hannah Arendt), dem so gar nichts Monströses anzuhaften schien. In der Person Eichmann wurde die Legende zerstört und zerbrach.
Die Folgen des Verfahrens betrafen auch Israel. Dort hatte die Auseinandersetzung mit dem Holocaust lange nicht an erster Stelle gestanden. Das änderte sich mit dem Eichmann-Prozess. Der 1948 gegründete Staat verstand sich als zionistisches Projekt, in dem der „Muskeljude“ (Max Nordau) ein neues Land erschaffen sollte, das im Gegensatz zu den unterdrückten Juden in den Schtetl in Osteuropa stand.
Vorwurf des zu geringen Widerstands
Der Massenmord in Europa, in dem sich die Opfer angeblich widerstandslos „wie die Schafe zur Schlachtbank“ hatten führen lassen, passte wenig zu dieser Erzählung. Und so stießen die Überlebenden dort nicht immer auf Verständnis und Unterstützung, deren sie bedurften, ja, ihnen wurde bisweilen zum Vorwurf gemacht, sich nicht anständig gewehrt zu haben.
Der Prozess beendete diese ungerechte Debatte. In dem Verfahren wurde durch die Aussage der Zeugen deutlich, welch geringe Möglichkeiten die Verfolgten zum Widerstand gehabt hatten. Und die Zuhörer erfuhren, dass es diesen verzweifelten Widerstand dennoch gegeben hat.
Schließlich setzte der Jerusalemer Prozess Maßstäbe für den Umgang mit Vertretern verbrecherischer Systeme. Das Verfahren knüpfte unter anderem durch seine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an die Nürnberger Prozesse an und stärkte damit Möglichkeiten für eine Strafjustiz, die mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag erst Jahrzehnte später Realität wurden.
Und noch etwas änderte sich mit dem Verfahren in Jerusalem. Hier machten Juden einem deutsch-österreichischen Verbrecher den Prozess. Sie waren nicht länger Objekt der Geschichte, sondern beanspruchten, die Geschichte selbst zu bewerten – aber als Richter und nicht aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit.
Gegenteil heutiger Identitätsdebatte
Schon Eichmanns deutschem Rechtsanwalt Robert Servatius ging das damals entschieden zu weit. Ein Jude sei nicht dazu qualifiziert, Eichmann vor Gericht zu stellen. Solcherart völkische Vorstellungen – das genaue Gegenteil der heutigen Identitätsdebatte – lebten danach noch Jahrzehnte fort.
1985, so schreibt es der Holocaust-Forscher Saul Friedländer, habe ihm der deutsche Historiker Martin Broszat erklärt, die Subjektivität der Opfer und ihrer Nachkommen verhindere eine objektive Darstellung der Geschichte, Juden seien also zur Forschung über den Massenmord disqualifiziert – während dies für die Nachkommen der Täter offenbar nicht galt.
Diese Debatte hat sich erledigt – wenn auch nicht als Folge des Verfahrens in Jerusalem.
Adolf Eichmann ist am 1. Juni 1962 hingerichtet worden. Es ist das einzige Todesurteil im Staat Israel geblieben. Aber nicht Eichmanns Tod ist wichtig geblieben, sondern ein Prozess, der Maßstäbe gesetzt und Geschichte geschrieben hat.
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