50 Jahre AKW-Besetzung in Wyhl: So geht erfolgreiche Umweltpolitik
Vor 50 Jahren besetzten Atomkraftgegner im badischen Wyhl einen Bauplatz – und verhinderten so ein Atomkraftwerk. Wie sie das geschafft haben.
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Ein Mythos war geboren. „Wir machen es wie in Wyhl“, hieß es plötzlich überall in Deutschland, wo Atomkraftwerke geplant waren. Denn in der kleinen südbadischen Gemeinde hatten Bürger das Unvorstellbare geschafft: Sie hatten durch eine Platzbesetzung einen Baustopp erwirkt und dafür gesorgt, dass die Kraftwerkspläne für alle Zeiten in der Schublade verschwanden.
50 Jahre ist das nun her. Dabei hatte es am Anfang gar nicht so ausgesehen, als könnte das Winzerdorf am Kaiserstuhl deutsche Widerstandsgeschichte schreiben. Zwar war der Standort Wyhl seit Juli 1973 bekannt und seit August 1974 gab es die „Badisch-Elsässischen Bürgerinitaitiaven“. Und doch begann der Bau des AKW unspektakulär, was daran lag, dass die Aktion für die Bürger unerwartet kam. „Die Arbeiten wurden nicht behindert“ vermeldete am nächsten Tag die Badische Zeitung.
Doch an diesem Dienstag änderte sich alles. Unter dem Motto „Besser heute aktiv als morgen radioaktiv“ besetzte eine Gruppe den Bauplatz am Rhein. Ein paar Hundert Menschen reichten aus, um die Bauarbeiten zu stoppen. Die Bürger hatten Polizei und Baufirma schlicht übertölpelt. Letztere hieß Kernkraftwerk-Süd GmbH und war eine Tochter des Badenwerks, das später zur EnBW fusionierte. Der Slogan des Stromkonzerns – „Mehr Energie. Damit der Fleiß im Land sich lohnt“ – hatte offenkundig nicht bei allen verfangen.
Als die Atomkraftgegner das Gelände auch am Mittwoch noch besetzt hielten, entschied sich Baden-Württembergs Ministerpräsident Hans Filbinger, ehemaliges NSDAP-Mitglied, für gewaltsames Durchgreifen. Am frühen Donnerstag ließ er 600 Bereitschaftspolizisten anrücken, mit Hundestaffel und Wasserwerfern.
Hier hat die Repression den Protest gestärkt
Das heizte die Stimmung weiter an, am Sonntag darauf kamen 28.000 Menschen aus der gesamten Region auf den Bauplatz. Die Polizei musste sich zurückziehen und das Badenwerk stellte – perplex angesichts der Massen und deren friedlicher Entschlossenheit – die Bauarbeiten endgültig ein.
So haben die Atomkraftgegner Zeit gewonnen, sich auszubreiten. Sie organisierten eine ständige Platzwache und bauten das „Freundschaftshaus“, eine Holzhütte für 500 Leute, die zum Standort der „Volkshochschule Wyhler Wald“ wurde, in der zum Beispiel Vorträge zu Umweltthemen stattfanden, auch in den Abendstunden.
Nachmittags kamen Schüler auf das Gelände, die Freiburger Studenten halfen ihnen bei den Hausaufgaben. Erst nach einer Vereinbarung mit der Landesregierung im Januar 1976 räumten die Besetzer den Bauplatz. Die Arbeiten ruhten weiterhin, offiziell aufgegeben wurde das Projekt im Jahr 1987.
Bis heute lautet die Frage: Warum gelang der Umweltbewegung in Wyhl so ein großer Erfolg? Zum einen lag das an der prägnanten Forderung: „Kein AKW in Wyhl“. Auf Alemannisch: „Nai hämmer gsait“ („Nein haben wir gesagt“). Nicht immer lassen sich politische Forderungen auf ein schlichtes Ja oder Nein konzentrieren.
Noch wichtiger als das klare Ziel war wohl die Offenheit der Akteure, mit verschiedenen Weltanschauungen umzugehen. In Wyhl kämpften linke Studenten und konservative Winzer zusammen. „Man hat nicht gefragt: Woher kommst du politisch?“ – das ist einer der Sätze, den man von den damaligen Kämpfern hört, fragt man sie nach ihrem Erfolgsrezept.
Das Rezept hat auch andernorts funktioniert
Dass erst der Schulterschluss über ideologische Grenzen hinweg Erfolge beschert, haben im Nachgang von Wyhl auch weitere Beispiele gezeigt. Ein ähnlicher Sieg gelang kurz darauf im schweizerischen Kaiseraugst nahe Basel, wo eine bürgerliche Bewegung per Bauplatzbesetzung das Ende der Reaktorpläne erwirkte.
Gleichermaßen führte in Österreich ein über politische Präferenzen erhabener Widerstand gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf nach einer erzwungenen Volksabstimmung zum Ende aller AKW-Pläne im Land. Und auch der Protest in Gorleben, wo das Landvolk zusammen mit den Städtern auf die Straße ging, war ein Erfolg.
Der Pragmatismus, der über ideologische Abgrenzung siegte, lag in der Tradition der frühen Umwelt- und Anti-Atom-Bewegung. Deren Vordenker waren Herbert Gruhl, der das Buch „Ein Planet wird geplündert“ geschrieben hat, ebenso wie Holger Strohm, dessen Werk „Friedlich in die Katastrophe“ die Presse gar zur „Bibel der Anti-Atomkraft-Bewegung“ geadelt hat. Auch die beiden passten parteipolitische in keine Schublade.
Die heutige Klimabewegung ist anders
Die heutigen Bewegungen sind anders. Statt ein präzises Thema anzusprechen, wirken etwa die Proteste der Klimabewegung oft wie eine Show vielfältiger gesellschaftlicher Ideen. Zugleich versammeln sich heute oft Menschen aus der gleichen ideologischen Richtung.
Ändern könnte sich das bei griffigeren Themen. Zum Beispiel, wenn die Standortauswahl für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle in Deutschland konkret wird. Dann könnte es passieren, dass die Menschen sich wieder aus der Komfortzone ihres Milieus oder Meinungsspektrums herauswagen. Denn 50 Jahre Widerstand in Wyhl haben gezeigt: Wo Menschen mit Treckern und Kopfarbeiter zum Protest zusammenfinden, sind die Erfolgschancen in der Regel größer.
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