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5. Jahrestag des Anschlags„Die Stadt Hanau ist schuldig“

Am fünften Jahrestag des rassistischen Anschlags gedenken die Angehörige der Opfer. Sie üben scharfe Kritik an den ebenfalls anwesenden Politikern.

Eine Angehö­rige sitzt während der Gedenkfeier vor einem Grabstein und folgt der Rede eines Imams Foto: Boris Roessler/dpa

Hanau taz | Am fünften Jahrestag des rassistischen Anschlags fand am Mittwoch in Hanau eine offizielle Gedenkstunde statt. Neben den Angehörigen nahmen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) teil.

Auf der Veranstaltung kritisierten die Angehörigen unter anderem die Stadt Hanau und die Politik scharf. „Sie können nicht wissen, wie ich in den letzten fünf Jahren gelebt habe. Seit fünf Jahren bleibt mir jedes Essen im Hals stecken. Sedat kann nichts mehr essen“, so Emis Gürbüz, die bei dem Anschlag ihren Sohn Sedat Gürbüz verlor. Sie forderte, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und betonte: „Die Stadt Hanau trägt die Verantwortung für den 19. Februar 2020 und sie ist schuldig.“

Zuvor habe der Täter Briefe geschrieben, die die Stadt ignorierte. Auch gegen die verschlossene Notausgangstür sei nichts unternommen worden. „Die Fehler, Versäumnisse und Fahrlässigkeiten der Stadt Hanau haben neun jungen Menschen das Leben gekostet“, sagte Gürbüz und verlangte, dass die Stadt ihre Verantwortung anerkennt, denn: „Hätte die Stadt ihre Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt, wären diese Kinder heute am Leben.“ Sie kritisierte, dass die Stadt den Mord an ihrem Kind nutze, um mit Projekten Millionen zu kassieren. Sie und andere Familien lehnten das geplante Mahnmal ab, da es nicht ihren Wünschen entspreche und am falschen Ort liege.

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Said Etris Hashemi, der seinen Bruder verlor und selbst verletzt wurde, mahnte die Politik: „Mitten im Wahlkampf wird die Frage der Migration nicht als Frage der Menschlichkeit betrachtet, sondern als eine Art Wettbewerb, wer am schnellsten und am meisten abschieben kann.“ Fünf Jahre nach Hanau spreche kaum jemand über die Menschen, die in Angst leben müssen.

Steinmeier bedauert

Auch Çetin Gültekin, dessen Bruder ebenfalls Opfer des Anschlags wurde, kritisierte den anhaltenden Rechtsruck: „Vor fünf Jahren wurde Hanau als Zäsur bezeichnet. Jetzt tobt ein rassistischer Wahlkampf. Er wird von der AfD angetrieben, und andere Parteien machen mit.“ Er erinnerte Bundespräsident Steinmeier an sein Versprechen am ersten Jahrestag: „Ich frage Sie, wo war und wo ist die Bringschuld geblieben?“

Bundespräsident Steinmeier rief zum Engagement gegen Menschenfeindlichkeit auf: „Es ist an uns, Menschenfeindlichkeit, Hass und Gewalt entschlossen entgegenzutreten.“ Die Morde seien nicht aus dem Nichts geschehen. Ressentiments gegen Muslime, Juden, Sinti und Roma sowie Hass im Internet vergifteten das gesellschaftliche Klima. Steinmeier bedauerte, dass einige Angehörige den Eindruck gehabt hätten, den Staat zur Aufklärung drängen zu müssen.

Der Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag habe Versäumnisse und Fehler von Behörden und Polizei gezeigt. Es schmerze ihn, dass sich die Angehörigen respektlos behandelt fühlten. „Im Namen der Bundesrepublik sage ich heute: Wir tragen Verantwortung, dass die Opfer einer solchen Gewalttat die Anteilnahme erhalten, die sie brauchen.“

Am 19. Februar 2020 tötete Tobias R. in Hanau neun Menschen, seine Mutter und sich selbst. Am vergangenen Samstag demonstrierten in der hessischen Stadt etwa 1.000 Menschen unter dem Motto „Erinnern heißt verändern“. Die Initiative 19. Februar organisierte eine eigene Gedenkveranstaltung mit rund 400 Teilnehmern, darunter Angehörige anderer rechtsterroristischer Anschläge, wie Semiya Şimşek, deren Vater vom NSU ermordet wurde. (mit afp)

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7 Kommentare

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  • Betrifft Hanau nur indirekt, aber strukturell und zeigt wie stark der gesellschaftlche Rassismus auch bei der Polizei verankert ist. Laut DPA und einer Anfrage der Linken werden ca. 20 Polizeischüler beschuldigt rassistische Aussagen getätigt zu haben. Darunter die Unterstützung der white power Bewegung.



    Der Leiter der Polizeischule wurde beurlaubt, weil er nichts gegen einen offen rassstisch lehrenden Dozenten unternahm, der sein Unwesen jahrelang treiben konnte. Dies alles geschah in der Lausitz, wo die AFD die ganze Gesellschaft durchzieht und Nazis offen agieren und Menschen bedrohen.



    Die taz berichtet hoffentlich über diesen unsäglichen Rassismusskandal der Polizei.



    Vermutlich macht die Staatsanwaltschaft einen Deal mit den Beschuldigten und dann dürfen diese Polizisten Beamte werden. Dem Staat ist in dieser Hinsicht leider nicht mehr zu trauen.

  • Ich kann die Betroffen verstehen, mein Herz ist bei ihnen

  • Ein ganz großes Lob für die Berichterstattung der taz über den 5. Jahrestag des Anschlags in Hanau. Besser geht es kaum. Auch andere Medien berichteten engagiert.

    Nicht aber die tageschau, die den Vorwürfen der Angehorigen der Opfer gegenüber dem Staat kaum Aufmerksamkeit schenkte.



    Wie kann es sein, dass der taz zufolge ein überlebendes Opfer seelisch am Ende ist, im Rollstuhl sitzt und keine behindertengerechte Wohnung hat, auf dem Fußboden von seiner jungen Tochter gewindelt werden muss? Die Worte von Herrn Steinmeier zum Jahrestag klingen in dem Zusammenhang Menschen verachtend.

  • Es gibt kein Behördenversagen.



    Wenn Versagen vorliegt dann haben Menschen versagt.



    Menschen in Behörden.



    Aber trotzdem Menschen aus Fleisch und Blut.



    Und wenn tatsächlich Versagen vorliegt dann sind diese Menschen verantwortlich ...

    • @Bolzkopf:

      Das Individuum spielt in politischen Systemen nur eine untergeordnete Rolle. Behörden bilden Strukturen und daraus entwickeln sich sich selbst erhaltende Systeme. Systeme in denen der Erhalt des Systems an sich wichtiger ist als die faktische Wirkung der Behörde. Vgl. Niklas Luhmann und andere Systemtheoretiker.

      Strafrechtlich ist das in Hanau unzweifelhaft stattgefunden habende Systemversagen aber nicht zu greifen, weil im Strafrecht die individuelle Schuld nachgewiesen werden muss.



      Und für eine strafrechtliche Verurteilung reichen persönliche Gleichgültigkeit oder fahrlässige Veräumnisse der Behördenmitarbeiter*innen nicht aus.



      Siehe dazu auch die strafrechtliche Aufarbeitung der Love-Parade in Duisburg (21 Tote) mit Verfahrenseinstellung ohne Auflagen für alle 10 Angeklagten.

    • @Bolzkopf:

      Das ist Raublistik. Sie lenken vom Thema mit solchen Haarspaltereien ab.

  • Etwas mehr Einblick in die Tat bietet die ARD unter



    www.tagesschau.de/...arbeitung-100.html

    Das Wort Behördenversagen ist dabei sehr bemäntelnd. Insbesondere das Versagen der Polizei und des Ordnungsamtes der Stadt Hanau - Notruf nicht erreichbar, versperrte Fluchttür - ist ein Skandal. Dass die Verantwortlichen hierfür nicht zur Rechenschaft gezogen werden, erzeugt ein Ohnmachtsgefühl eines Staates im Staate, eines Obrigkeitsstaates, der sich straffrei macht und der Schuld entzieht. Vor allem seiner leitenden Köpfe, die sich hinter Untersuchungen verstecken. Dies alles hat den Geschmack eines fortlebenden Preußentums, und es passt einfach nicht in eine moderne Demokratie.

    Einige Opferfamilien wollen bis vor den Internationalen Strafgerichtshof ziehen. Ich hoffe, dass die Zivilgesellschaft sie dabei kräftig unterstützt.