40 Jahre Kirchenasyl: Juristische Grauzone
1983 entschloss sich erstmals eine Kirchengemeinde, Geflüchteten Asyl zu gewähren. Seitdem wurden so wohl Hunderte vor der Abschiebung bewahrt.
Die Auftaktveranstaltung findet am historischen Ort statt, denn in dieser Kirche wurde 1983 die Kirchenasylbewegung geboren. Anlass war der Suizid des Türken Cemal Kemal Altun. Altun hatte in Deutschland Asyl beantragt, doch die Türkei forderte seine Auslieferung. Er saß 13 Monate lang in Auslieferungshaft.
Für viele Menschen war der Tod Altuns ein Wendepunkt in der Wahrnehmung der Flüchtlingspolitik. Ein Trauerzug von mehreren tausend Menschen bewegte sich damals zum Friedhof der Heilig-Kreuz-Gemeinde. Bereits im Frühjahr 1983 hatte in der Heilig-Kreuz-Kirche ein Hungerstreik für die Freilassung von Altun aus der Auslieferungshaft stattgefunden.
Hannah Reckhaus-Le Treut, die Geschäftsführerin von „Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg e. V.“, sagt: „Nach dem tragischen Tod von Cemal Kemal Altun aus Angst vor einer Abschiebung in die Türkei sagten sich viele Menschen aus Kirchengemeinden, wir müssten nun aktiv werden für einen besseren Umgang mit Flüchtlingen.“ Nur wenige Wochen später gab es in der Heilig-Kreuz-gemeinde das erste Kirchenasyl.
Hohe Kosten für die Gemeinden
Juristisch sei Kirchenasyl eine Grauzone, sagt Reckhaus. „Es gibt kein Gesetz, dass der Staat das achten muss. In der Kirche ist es aber seit Jahrhunderten Tradition, bedrohten Menschen einen Schutzraum zu bieten.“ Kirchenasyle geben den Behörden Zeit, über das Schicksal der von Abschiebung bedrohten Menschen erneut nachzudenken.
Laut „Asyl in der Kirche“ sind 98 Prozent der Kirchenasyle erfolgreich. Gut 90 Prozent betreffen allerdings derzeit sogenannte Dublinfälle, also Menschen, denen eine Rückschiebung in einen anderen EU-Staat droht. Hier dient das Kirchenasyl lediglich dazu, Zeit zu überbrücken. Denn die Behörden haben meist nur 6, in Ausnahmefällen 18 Monate Zeit, um die Menschen in den anderen EU-Staat zurückzuschicken. Wenn die Flüchtlinge diese Zeit im Kirchenasyl „absitzen“, ist die Rückschiebegefahr gebannt.
Ein Sprecher der evangelischen Kirche in Mitteldeutschland sagte der dpa dazu, es sei erschreckend, von welchen schlimmen Erfahrungen aus anderen Eu-Staaten geflüchtete Menschen berichteten. „Von illegalen Pushbacks, die teilweise mit großer Härte ausgeführt werden, selbst wenn Kinder dabei sind, wird ebenso berichtet wie von Inhaftierungen unter sehr schwierigen Lebensbedingungen.“
Bundesweit gibt es laut „Asyl in der Kirche“ derzeit 320 Kirchenasyle für insgesamt 516 Menschen. Das ist trotz steigenden Bedarfs ein Rückgang. Vor einem Jahr gab es noch 360 Fälle für 561 Schutzsuchende. Der Rückgang hängt mit den hohen Anforderungen an eine Kirchengemeinde zusammen, die Kirchenasyl gewährt. Sie muss vollständig für den Lebensunterhalt ihrer Gäste aufkommen. Bei schweren medizinischen Eingriffen und Entbindungen helfen öfter konfessionelle Krankenhäuser, die dann kostenlos behandeln.
Viele Gerichsverfahren gegen Pfarrer und Schwestern
Staatliche Leistungen gibt es für Menschen im Kirchenasyl nicht. In ländlichen Regionen müssen Kirchengemeinden auch Fahrdienste organisieren, um Kinder im Kirchenasyl zur Schule zu bringen. Vielen Kirchengemeinden fehlen auch die Räume, um Menschen unterzubringen. In den allermeisten Fällen respektieren die Behörden das Kirchenasyl, obwohl es dafür keine gesetzliche Grundlage gibt.
Einen Versuch, ein Kirchenasyl zu brechen gab es 2003 in Schwante in Brandenburg: Damals brach die Polizei in die kirchlichen Räume ein, um den alleinerziehenden Vietnamesen Xuan Khang Ha und seinen fünfjährigen Sohn zur Abschiebung abzuholen. Durch Zufall traf die Polizei die beiden damals nicht an. Der Fall wurde bundesweit in Medien aufgegriffen, so dass es keinen zweiten Abschiebeversuch gab.
Seit einigen Jahren überziehen Behörden in Bayern und Nordrhein-Westfalen allerdings Pfarrer und katholische Ordensschwestern mit Strafanzeigen, wenn diese Kirchenasyl gewähren. Die Gerichte gehen unterschiedlich damit um. Viele Verfahren werden eingestellt, in anderen Fällen gibt es Geldstrafen. So beispielsweise gegen eine katholische Ordensfrau aus Würzburg 2021.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker