4-Stunden-Film „An Elephant Sitting Still“: Jugend in kontaminiertem Gebiet
Ein Tag, vier Schicksale, wenig Hoffnung: Der Spielfilm „An Elephant Sitting Still“ von Hu Bo erzählt so lässig wie traurig vom heutigen China.
Man meint, an diesem endlos währenden Tag würde niemals die Sonne zu sehen sein. Und dann lugt sie einen plötzlich an. Und man ist sich nicht sicher, ob das jetzt Hoffnung bedeuten kann oder doch eher nichts.
Die Welt, die Hu Bo in seinem ersten und letzten langen Film „An Elephant Sitting Still“ errichtet – oder vielmehr für das Kino aufbereitet, lässt eigentlich nicht viel Grund für so etwas für Hoffnung. Sie ist geflochten aus einer endlosen Kette an Ereignissen, die alle auf ungute Weise miteinander verbunden sind, die alle Beteiligten auf eine ebenso ungute Weise miteinander verbinden: Schlägst du mich, schlag ich dich; bestiehlst du mich, bestehle ich dich; wenn es mir schlecht geht, dann darf es dir nicht gut gehen.
In der Unmöglichkeit, nicht zu reagieren, reiht sich ein Affekt an den nächsten, der wiederum einen weiteren auslöst. Nur bei einem ist es anders: dem geheimnisvollen Elefanten, der wie ein Zenmeister an einem etwas entfernt liegenden Ort einfach nur stillsitzen und nichts machen soll. Er löst bei allen, die von ihm hören, Gelächter aus. Aber kein höhnisches, sondern ein bewunderndes, verunsichertes, so als könnte man es kaum glauben, dass es etwas in dieser Art wirklich geben könnte: einfach dasitzen; nichts machen; den Tag passieren lassen, weder einstecken noch austeilen.
Der Elefant hockt in Manzhouli, einer nordchinesischen Stadt, in einem Zoo. Er ist im Film immer wieder anwesend, obwohl er unsichtbar bleibt. Man erzählt sich über ihn, seine Existenz wird nicht vergessen. Die Idee, zu ihm zu fahren, ist auch der Wunsch, diesen unbenannt bleibenden – und damit vielleicht stellvertretend für viele Orte stehenden – Flecken zu verlassen, an dem den ganzen Tag schon Fürchterliches geschieht.
„An Elephant Sitting Still“. Regie: Hu Bo. Mit Zhang Yu, Peng Yuchang u. a. China 2018, 230 Min.
Der Elefant taucht auf, wenn es einen Moment des Durchatmens gibt. In der Begegnung zwischen dem 16-jährigen Bu (Peng Yuchang) und seiner Mitschülerin Ling (Wang Yuwen) etwa. Sie unterhalten sich über einen Trip nach Manzhouli. Fast, als wäre nichts dabei und als spiele es keine Rolle, dass Bu in diesem Augenblick von Cheng (Zhang Yu) gesucht wird, einem Lokalganoven, dessen Netze weit reichen, und der Bu auf seiner Abschussliste stehen hat. Warum? Weil Bu am Morgen desselben Tages Chengs jüngeren Bruder, einen unausstehlichen Peiniger der hiesigen Schule, derart geschubst hat, dass dieser die Treppen hinunterfiel und – unglücklicherweise – daran starb.
Festen Schrittes Richtung Fenster
Dabei ist Cheng selbst mit noch ganz anderem Gepäck unterwegs: Ebenfalls am Morgen dieses dunklen Tages musste er mit ansehen, wie sein bester Freund festen Schrittes Richtung Fenster lief und sprang. Warum? Weil er seine Frau mit Cheng in der gemeinsamen Wohnung erwischte, kurz nachdem sich beide die Kleider wieder angezogen hatten.
Später werden andere Motive genannt: die Verschuldung, die der Freund mit dem Kauf der Wohnung eingegangen war, um Bedürfnissen nach Komfort nachzukommen und im Wettlauf um einen Platz im schönen neuen China nicht zurückzubleiben. Es ist der andere Motor in dieser trüben, rasanten und gleichzeitig wie erlegten Welt, der die Dinge ins Rollen bringt: die Sehnsucht nach Verbesserung und Aufstieg, mitunter sehr zynisch vorgetragen.
Da ist zum Beispiel der höhere Angestellte einer Schule (der auch ein Verhältnis mit der Schülerin Ling hat und außerdem eine große, frische Wohnung), der seinen Schülern ihre Zukunft prophezeit: als armselige Straßenverkäufer mit transportablen Garküchen würden sie alle enden. Warum? Diese Schule sei so schlecht, sie könne gar nichts anderes ausspucken als Verlierer.
Das nächste Unglück in Gang setzen
Das „Warum“ im Film, und damit auch in diesem Text, schwindelt eine Kausalität herbei, die nicht unbedingt wahr ist, aber die Folgehandlungen legitimiert. Irgendwo muss es ja einen Grund dafür geben, dass sich das nächste Unglück in Gang setzen darf. In „An Elephant Sitting Still“ ist dieses Prinzip ohne Anfang und Ende – und der Film hat eine Laufzeit von knapp vier Stunden. Sie tun weh. Gleichzeitig sind sie wunderschön.
In einem englischsprachigen Blogbeitrag, verfasst während der Berlinale, wo Hu Bos Film in der Sektion Forum lief und sich schnell den Ruf eines Must-see erspielte, heißt es: „What Joy Divsion achieved chromatically through sound, Hu Bo did with light.“ Genau genommen nicht nur Hu Bo, sondern auch dessen Kameramann Fan Chao. Das Internet kennt ihn noch nicht, jedenfalls das außerhalb Chinas. Es sagt, Fan Chao habe bisher nur diesen einen Film gemacht. Das ist wahrscheinlich nicht richtig. Und selbst wenn, fällt es schwer zu glauben.
Es ist eine sehr selbstbewusste, freie Kameraführung, die hier zu sehen ist, eine, die sich nicht nur vorausschauend und geschmeidig zu bewegen versteht, sondern auch mit Schärfen und Unschärfen umzugehen weiß, und darüber hinaus: auch mit ihnen erzählt. Das eingesetzte Licht macht indes die Spanne zwischen Abgrund und Weite deutlich. Immer wieder verschwinden Menschen in die Dunkelheit hinein, in Treppenhäuser oder Wohnungen, in die kein Licht dringt, weil gleich vor dem Fenster eine Mauer aufsteigt.
Man pöbelt und mordet auch bei Tageslicht
Aber auch das Licht, das es vor der Tür anzutreffen gilt, ist nicht automatisch gutmütig gesinnt – es stellt aus. Interessanterweise scheint das niemanden zu stören. Heißt es, das Gräuel passiere im Dunkeln, spielt all dies hier keine Rolle mehr: Man pöbelt und mordet auch bei Tageslicht, wo es jeder sehen kann.
Es gibt ein großes, stellenweise sogar stumpfes Einvernehmen mit diesen Abläufen, ganz so, als hätte man es mit Naturgesetzen zu tun. „Das Leiden beginnt schon mit der Geburt“, sagt der Lehrer an einer Stelle zu Ling, und damit ist nichts Weises gemeint, sondern vielmehr eine Art Freibrief, in dem steht, dass es legitim und normal ist, Leid zuzufügen. Hu Bos Einsicht in diese Prozesse ist deprimierend. Den Glauben an die Erwachsenen hat er aufgegeben. Sympathisches umgibt höchstens die Alten, die noch andere Zeiten kennen, deren Weg aber unaufhaltsam Richtung Altersheim weist.
Den Jungen wird etwas zugetraut, aber sie wachsen in kontaminiertem Gebiet heran. Und dann gibt es solch zwielichtige interessante Gestalten wie eben diesen Cheng, den man fürchtet, der aber auch noch nicht ganz abgeschaltet hat. In jenem Aufeinandertreffen zwischen Cheng und dem Teenager Bu könnte etwas geschehen, das über das Reflexhafte hinausgeht. Und Hu Bo baut seinen Film geschickt auf diese Klimax hin.
Als Held gefeiert
Angeblich wird Hu Bo von seinen Altersgenossen für das Zeigen dieses Chinas als Held gefeiert. Dass er sich im Oktober 2017, nur wenige Monate vor der Premiere seines Films, im Alter von 29 Jahren, in einem Treppenhaus erhängte, trägt sicherlich zum Mythos bei. Man kann nur spekulieren, was von diesem Regisseur noch zu erwarten gewesen wäre – beziehungsweise von diesem Autor. Denn Hu Bo hat sich auch als Verfasser von Erzählungen hervorgetan, allerdings unter dem Namen Hu Quian.
Im Januar letzten Jahres erschien seine Kurzgeschichtensammlung, herausgegeben vom Verlag Jiuzhou Press, unter dem Titel „Big Crack“. Bis dato liegt weder eine englische, geschweige denn eine deutsche Übersetzung vor. Eine solche aber böte immerhin die Gelegenheit, noch etwas tiefer in diesen Kopf zu dringen, der so lässig wie tieftraurig von einem Land und seiner Gesellschaft berichtet. Sein Tonfall erinnert an das musikalische Thema, von dem „An Elephant Sitting Still“ unterwandert ist, einer monotonen, hübschen und melancholischen Melodie (Hua Lun), die beschwingt und gleichzeitig kaputt klingt, wie auf defekten Instrumenten aufgenommen. Ein verschatteter Herzschlag. Aber doch ein Herzschlag.
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