35 Jahre Deutsche Einheit: Feierlich wieder auseinander vereinigt
Umfragen belegen wieder wachsende Fremdheitsgefühle unter Deutschen. Tiefergehende mentale Ursachen erfassen die Demoskopen dabei nicht.

Vier Tage vor dem Jahrestag des formalen Beitritts der DDR zur Bundesrepublik schockierte das Forsa-Meinungsforschungsinstitut mit einer deprimierenden Umfrage. Nur noch ein reichliches Drittel aller Deutschen konstatiert ein solches Zusammenwachsen zu einem Volk. Für 61 Prozent überwiegt eher das Trennende, im Osten empfinden es sogar drei Viertel so.
Vor allem Ältere, in der Generation U30 fühlt erwartungsgemäß fast die Hälfte gesamtdeutsch. Das Onlineportal „MDR fragt“ mit 25.280 Teilnehmern kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Für zwei Drittel hat der 3. Oktober keine oder nur eine geringe emotionale Bedeutung. Nach wie vor bezeichnen sich 55 Prozent zuerst als ostdeutsch, obschon zwei Drittel für sich persönlich mehr Chancen durch den Mauerfall sehen.
Nach einem Zustimmungshöhepunkt 2019 wird der Stand des deutschen Vereinigungsprozesses tendenziell immer negativer beurteilt. Damals sah noch etwas mehr als die Hälfte die Einheit auf gutem Weg. Ist es Zufall, dass im selben Jahr der Solidarpaktes II zur Finanzierung der Einheit auslief?
Saarbrücken liegt nicht im Osten
Entsprechend gering ist auch 2025 sowohl das private wie das öffentliche Interesse an einem irgendwie erwärmenden Gedenktag. Die offizielle zentrale Einheitsfeier findet in diesem Jahr im polizeilich höchstgesicherten Saarbrücken statt, es reden die üblichen Verdächtigen. Landtage öffnen nach geschlossenen Feierstunden. Sonst aber gilt dieser Feiertag den allermeisten in erster Linie als Brückentag eines verlängerten Wochenendes.
In Dresden beispielsweise lädt nur die Stiftung Frauenkirche im Schatten des kommerziellen Herbstmarktes vor der Kirche zu einem „Markt der Demokratie“ ein. Dem 17. Juni, dem Gedenktag der Original-Bundesrepublik an den von der Sowjetunion niedergeschlagenen Aufstand in der DDR 1953, erging es ähnlich. Wer als hoffnungsvoller und noch ein bisschen naiver Ossi den 3. Oktober 1990 auf den Canstatter Wasen in Stuttgart erlebte, kann hinsichtlich der Einheitsbegeisterung nunmehr eine vollständige Ost-Westangleichung melden. Es war damals ein Rummeltag wie jeder andere, das Vereinigungsereignis bemerkte kaum jemand, und das Feuerwerk um Mitternacht wirkte künstlich aufgesetzt.
Keineswegs im Widerspruch zu äußerer Passivität bleibt aber dieser deutsche Irgendwie-Zusammenschmeißprozess ein nervendes Thema. Belegt durch eher leise Selbstverständigungs- und Selbstermunterungsbemühungen Ost einerseits und eine Flut von Erklärungsbüchern und Interviews andererseits. „Dein Ossi, das unbekannte Wesen“, um es mit den Sex-Aufklärungsfilmchen Oswalt Kolles aus den 1960-ern zu sagen.
Wolfgang Engler, Dirk Oschmann, Katja Hoyer, Ilko-Sascha Kowalczuk oder Steffen Mau heißen die derzeit vielleicht bekanntesten Propheten und Exegeten. Ihre Bücher werden massenhaft gekauft. Ein junges, gerade 30-jähriges Schreibtalent wie der Görlitzer Lukas Rietzschel hat diese Rolle als gefragter Ost-Erklärer inzwischen gründlich satt und möchte am liebsten „das alles hinter sich lassen“.
Oasen im Osten
Nicht minder oft als empathischer Übersetzer ostdeutscher Fremdgedanken bemüht wird Frank Richter. Katholischer Priester an der Dresdner Hofkirche, Wegbereiter des friedlichen Herbstes 89, Streitschlichter beim polarisierten Dresdner Zerstörungsgedenken, Direktor der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, SPD-Landtagsabgeordneter und nun wieder im Raum Merseburg zu seinen Ursprüngen als Prediger zurückgekehrt.
Am 1. Oktober stellte er in Dresden den von ihm editierten Sammelband „Oasen im Osten“ vor. 40 Autoren beschreiben 23 Orte der Stille, der Zuflucht, der Gemeinschaft, des Engagements, geschützte Räume, aus denen wieder Kraft wachsen kann. Offensichtlich gärt eine Sehnsucht nach solchen Topoi. 20 Lesungen sind bereits vereinbart, darunter einige im Westen. Wo man gar nicht wissen kann, dass die Oase, die Nische die hauptsächliche Lebensform der DDR war und ihre subkulturelle Kreativität begründete.
Umfragen wie die von Forsa oder des MDR heben fast ausschließlich auf materialistische Aspekte der innerdeutschen Ungleichheit ab. So wie die „Revolutionäre“ des Herbstes 1989 zuerst nach der D-Mark riefen und weniger nach der Freiheit. In der Tat indizieren alle sozioökonomischen Daten ein anhaltendes Gefälle bei Löhnen, Renten, Vermögen, Bruttoinlandsprodukt, ja sogar bei den Kreditzinsen. Aber das hätten die Ossis doch ahnen können! Denn das auf dem Matthäusevangelium beruhende Grundgesetz des Kapitalismus „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ kursierte als flotter Spruch auch schon in der DDR.
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg rbb schloss schon am Tag seines Berichtes über die deprimierende Forsa-Umfrage die Kommentarfunktion. Zu viele Regelverstöße, im Klartext Sudeleien. Ein indirekter Hinweis darauf, dass Demoskopen die tieferen Beweggründe, die emotionalen Aspekte nicht abfragen.
Bei Buchpräsentationen wie der von Frank Richter kann man sie studieren. Zumindest in der Generation, die Vor- und Nachwende noch vergleichen kann, verständigt man sich über Codizes in einer Ostsprache. Trotzig-emanzipatorische Wortwahl, die die SED-Funktionäre damals auch nicht verstanden. Obschon kaum jemand bestreitet, dass äußerlich vieles toll geworden ist in 35 Jahren, schwingt dabei eine stille Gewinn-Verlust-Bilanz mit. Dabei wirken nicht nur die gebrochenen Biografien in den angeblich blühenden Landschaften nach der Währungsunion.
Unterschätzte Brüche
Die mentalen Brüche werden meist unterschätzt, meinte auch der langjährige Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow in der ARD-Diskussionssendung „Mitreden“ am Donnerstagabend. Aus Nachbarn werden Fremde, aus Kollegen Konkurrenten. Die perverse Grenzmauer relativiert sich, weil sie inzwischen gerade in der westlichen Welt als probates Mittel der Abschottung nach innen und außen gilt und weil längst millionenfach neue Zäune und Mäuerchen die Besitztümer schützen.
Antiquierte Begriffe wie Lebensfreude oder Zuversicht gehören schon gar nicht mehr in den Duden. Ja, die Dächer sind inzwischen dicht und ein schnelles Auto steht vor der Tür. Aber für die renovierte Wohnung muss man einen immer größeren Teil seines Einkommens abzweigen, und oft war man vor 40 Jahren mit dem Trabi schneller am Fahrziel.
Zu taz-Bildungsreisen in die ostdeutschen Länder kommen die aufgeklärtesten und interessiertesten Westdeutschen. Demgegenüber lernt man aber auch die 60-jährige bayerische promovierte Studienrätin kennen, die den berüchtigten Jugendwerkhof Torgau mit der gesamten DDR gleichsetzt und überzeugt ist, dass Ferienheime an der Ostsee ausschließlich Funktionären vorbehalten waren. Ein 20-Jähriger, der sich betont als Wessi bezeichnet, ätzt gegen die Theaterkritik an einem einseitigen Doku-Stück über Torgau und spricht dem Ostfossil die Kenntnis seines eigenen Lebensraums ab.
Sowohl West-Ignoranz als auch DDR-Verklärung setzen sich erwiesenermaßen in der zweiten Generation fort. Sollte das von den Hallensern nur verspottete und 250 Millionen teure „Zukunftszentrum Deutsche Einheit“ je zu einer nützlichen Arbeit gelangen, müsste es sich zu radikaler Ehrlichkeit jenseits des Master-Narrativs durchringen.
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