30 Jahre Soldaten-sind-Mörder-Beschluss: Generelle Kritik am Kriegshandwerk ist nicht strafbar
Am 7. November 1995 verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass die Äußerung „Soldaten sind Mörder“ von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
Seit 30 Jahren sind Soldaten Mörder. Darf man das so sagen? Nun ja, tatsächlich waren Soldaten schon immer Mörder, zumindest potenzielle. Aber vor 30 Jahren, am 7. November 1995, verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass es auch erlaubt ist, das öffentlich zu sagen. Zuvor hatten mehrere Gerichte in Bayern und Rheinland-Pfalz anders entschieden, deren Urteile von den Karlsruher Richter:innen jedoch zugunsten der Meinungsfreiheit aufgehoben wurden.
Soldaten sind Mörder. Seit der Weimarer Republik sorgt dieser Satz für Erregungsstürme und beschäftigt die deutschen Gerichte. Denn wenn Soldaten schon Mörder sind, dann höchstens die anderer Länder. Auf die beschränkte sich Kurt Tucholsky aber nicht, als er 1931 in der Weltbühne anlässlich des 17. Jahrestages über den Ersten Weltkrieg schrieb: „Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“
Da Tucholsky selbst bereits im Exil in Schweden lebte, wurde daraufhin der verantwortliche Weltbühne-Redakteur Carl von Ossietzky vom damaligen Reichswehr- und Innenminister, einem früheren Generalleutnant, wegen „Beleidigung der Reichswehr“ angeklagt. Doch das Berliner Schöffengericht sprach Ossietzky mit der Begründung frei, dass mit dem allgemeinen Satz „Soldaten sind Mörder“ keine konkreten Personen gemeint gewesen seien und eine unbestimmte Gesamtheit nicht beleidigt werden könne.
Eine ähnliche Begründung gab auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss von 1995. In der Verwendung des Wortes „Mörder“ müsse „nicht notwendig der Vorwurf einer schwerkriminellen Haltung oder Gesinnung gegenüber dem einzelnen Soldaten enthalten sein“, befanden die Richter:innen. Zu überlegen sei vielmehr, „ob sich die Äußerung nicht gegen Soldatentum und Kriegshandwerk schlechthin richtete, das verurteilt wird, weil es mit dem Töten anderer Menschen verbunden ist, das unter Umständen auf grausame Weise vor sich geht und auch die Zivilbevölkerung trifft“. Es müsse also der „Unterschied zwischen einer herabsetzenden Äußerung über alle Soldaten der Welt und die Soldaten der Bundeswehr beachtet“ werden.
Heftige Reaktionen bis hin zu Morddrohungen
Der Karlsruher Beschluss rief heftige Reaktionen hervor. Nach anonymen Morddrohungen mussten die Richter:innen sogar vorübergehend unter Polizeischutz gestellt werden. Wobei er übrigens nicht einstimmig fiel. Die konservative Verfassungsrichterin Evelyn Haas gab ein Sondervotum ab. Äußerungen wie „Soldaten sind Mörder“ oder auch „Soldaten sind potenzielle Mörder“ enthielten „ein Unwerturteil über Soldaten der Bundeswehr“, schrieb sie.
Deswegen fand sie die Kriminalisierung solcher Äußerungen richtig: „Eine Rechtsordnung, die junge Männer zum Waffendienst verpflichtet und von ihnen Gehorsam verlangt, muss denjenigen, die diesen Pflichten genügen, Schutz gewähren, wenn sie wegen dieses Soldatendienstes geschmäht und öffentlich als Mörder bezeichnet werden.“
Auf die schlichte Idee, dass das Problem möglicherweise darin bestehen könnte, junge Männer zum Waffendienst zu verpflichten und von ihnen Gehorsam bis zur Bereitschaft zum Töten zu verlangen, kam die Richterin Haas nicht. Was angesichts zweier von Deutschland entflammter Weltkriege, in denen uniformierte deutsche Mörder gehorsam Europa in Schutt und Asche legten, schon – vorsichtig formuliert – etwas bedauerlich ist.
Soldaten sind Mörder. In der Ukraine demonstriert die russische Armee tagtäglich, warum dieser Satz auch heute noch eine Berechtigung hat. Und das gilt auch für zahlreiche andere Kriege. In seinem Film „Monsieur Verdoux“ lässt Charlie Chaplin die von ihm selbst gespielte Hauptperson sagen: „Ein Mord macht zum Mörder, Millionen zu Helden, ob Mörder oder Held wird von der Zahl entschieden.“ In Zeiten, in denen Deutschland wieder „kriegstüchtig“ werden soll, kann es nicht schaden, sich dieser Worte zu erinnern. Deutschland hatte im vergangenen Jahrhundert schon genug „Helden“.
Es mag sein, dass der Satz „Soldaten sind Mörder“ heute noch mehr Menschen empört als 1995, als das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluss verkündete, konstatiert der Publizist Heribert Prantl im „Deutschlandfunk Kultur“. Aber der Krieg sei nun einmal das blutige Handwerk der Soldaten. „Wer sich wünscht, dass dieses Handwerk ausstirbt, ist ein pazifistischer Mensch“, so Prantl weiter. „Es wäre gut, wenn dieser Wunsch in Deutschland auch wieder eine Heimat hätte.“ Eine Auffassung, die leider nicht dem derzeitigen Zeitgeist zu entsprechen scheint. Aber wenigstens ist sie nicht strafbar.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert