30 Jahre Maikrawalle: Kreuzberger Märchen sind alt
Seit 1987 sucht die linke Szene am 1. Mai den Schulterschluss mit der „Normalbevölkerung“. Das gelingt den Rest des Jahres über viel besser.
Es war einmal ein Kiez am äußersten Rand der Stadt, vernachlässigt und verarmt, vom Rest der Welt fast vergessen. Wer hier wohnte, stand auf der Verliererseite und konnte nicht erwarten, dass sich daran je etwas ändern würde.
Eine Nacht lang aber, eine einzige Frühlingsnacht lang, nahmen sich die Bewohnerinnen und Bewohner, was sie haben wollten, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Und sie trugen ihre Wut auf die Straßen ihres Viertels, bis dort kaum mehr ein Stein auf dem anderen lag.
So in etwa lautet es, das Märchen vom 1. Mai 1987, auf das sich bis heute der Mythos dieses Tages und von Kreuzberg 36 gründet. Eine Erzählung, in der alle Vielschichtigkeit verschwindet. Und die in einem entscheidenden Punkt trotzdem wahr ist: Es war nicht die linke Szene, die damals SO 36 auseinandernahm, in den Plünderungen und der Randale drückten sich zumindest teilweise Not und Elend der Bevölkerung aus.
Genau daran will ein Teil der radikalen Linken seither anknüpfen: Jahr für Jahr wird aufs Neue der Kreuzberger Aufstand ausgerufen, werden die Volksmassen herbeigesehnt, die sich zu diesem Datum gegen ihre Knechtschaft erheben sollen, wird jede brennende Mülltonne zum Signal eines neuen Aufbruchs verklärt.
Wo bleibt die Wut?
Nur: So richtig klappt es meist nicht mit der Verbindung linker Gesten und durchschnittsbürgerlicher Wut. Und da, wo die Normalbevölkerung steinewerfend oder köfteessend den 1. Mai für sich beansprucht, wird hinterher wie schon am 2. Mai 1987 eine Repolitisierung des Tags gefordert.
Vielleicht kommt es ja aber auch deswegen nicht mehr zur sozialen Revolte, weil der Leidensdruck unter den BerlinerInnen nicht mehr groß genug ist? Eine einfache Erklärung, aber falsch. Es muss in dieser Stadt Tausende geben, die nachts schlecht schlafen, weil sie wissen, dass sie nicht dort wohnen bleiben können, wo ihr Zuhause ist. Tausende, die wach liegen, weil sie wissen, dass ihnen die Abschiebung droht, vielleicht schon morgen.
Aber vom individuellen Leid bis zum kollektiven Aufbegehren ist es ein weiter Weg. Und um den zu beschreiten, reicht es nicht, sich ein paar Schlagworte auf die Fahnen zu schreiben und von 87 zu träumen. Es braucht die mühselige politische Arbeit im Alltag, in der man sich auch mal die Hände schmutzig macht, weil die Realität oft widersprüchlicher ist, als man sie gern hätte.
Widersprüchliche Realität
Zum Beispiel weil sich die nette türkische Nachbarin, mit der zusammen Widerstand gegen den Vermieter organisiert werden soll, als AKP-Anhängerin entpuppt. Oder weil der Linkspartei-Wähler aus Marzahn zwar für einen höheren Mindestlohn ist, aber auch gegen das Flüchtlingsheim um die Ecke. Geschichten wie aus dem Märchen kommen dabei erst mal nicht heraus, wohl aber können bei solcher Basisarbeit kollektive Ermächtigungserfahrungen entstehen, die überhaupt erst die Voraussetzung bilden für gesellschaftliche Veränderung.
Es gibt viele politische Initiativen in der Stadt, die genau das erkannt haben – und für sie sind die 364 anderen Tage im Jahr mindestens so wichtig, meist sogar wichtiger als der 1. Mai. Deswegen ist es auch müßig, am Ausmaß der 18-Uhr-Demo oder der Randale eine Aussage über die Verfasstheit linker Politik in Berlin ablesen zu wollen.
Schon eher lohnt es sich, dafür einen Blick auf die Walpurgisnacht zu werfen: Seit 2012 organisiert das Bündnis „Hände weg vom Wedding“ hier eine Demonstration, mit der es gelungen ist, die einstigen Scharmützel nicht nur irgendwie zu politisieren, sondern konkrete politische Inhalte in den Mittelpunkt zu stellen – gegen hohe Mieten und rassistische Ausgrenzung, vor allem aber für eine Selbstorganisation im Kiez, die das Bündnis in der restlichen Zeit des Jahres vorantreibt. In diesem Jahr ruft unter anderem die Berliner Obdachlosenhilfe mit zur Demonstration auf, ein Zeichen dafür, wie stark diese mittlerweile verankert ist.
Auch beim 1. Mai tut sich etwas: Viele der Splittergruppen, die das Bündnis zur „revolutionären“ Demonstration lange zu einer selbst von den Beteiligten als anstrengend beschriebenen Veranstaltung gemacht haben, sind nicht mehr dabei.
Bessere Verankerung in den Kiezen
Ein Teil der Protagonisten der Szene organisiert inzwischen lieber eine politische Bühne auf dem Oranienplatz, womit auch eine Annäherung an das Myfest stattfindet. Und das ganze Wochenende vor dem 1. Mai veranstalten linksradikale Gruppen im Bethanien eine Konferenz mit dem Ziel, eine bessere Verankerung in „den Alltagskämpfen unserer Nachbarschaften“ zu erreichen.
Der 1. Mai wandelt sich, in welche Richtung ist noch nicht abzusehen: Etabliert sich die 18-Uhr-Demo als weitgehend friedlicher, aber auch weitgehend unpolitischer Spaziergang? Zieht irgendwann auch die Polizei die Konsequenz aus der ausbleibenden Randale und rüstet ab? Schrumpft sich das Myfest vom Befriedungsballermann zum politischen Nachbarschaftsfest gesund?
Klar ist: Der 1. Mai 1987 verschwindet langsam aus dem Gedächtnis jener, die an diesem Tag protestieren gehen. Zeit, sich seine eigenen Märchen zu schaffen. Auch wenn das länger dauert als eine Nacht.
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