30 Jahre Intersektionalität: Dem Ungetüm begegnen
Kimberlé Crenshaw hat den Begriff Intersektionalität für überlappende Diskriminierungen eingeführt. Im Alltag angekommen ist er noch nicht.
Es ist ein dermaßen sperriger Begriff, dass es eigentlich nicht wundert, wenn Menschen, die nicht direkt Betroffene sind, eine echte Auseinandersetzung mit ihr scheuen: mit der Intersektionalität. Akademiker-Identitätspolitik-Gedöns von Critical-Whiteness-Fanatikern, heißt es dann schnell oder eben gleich – höhö – Inter-sekt(en)-tionalität.
Dabei ist Intersektionalität etwas durch und durch Gelebtes, etwas konstant Erfahrenes, etwas, das es schon immer gab, das aber bis 1989 schlicht keinen Namen hatte. Klar, man hätte es auch Herbert nennen können, das wäre vielleicht zugänglicher.
Aber die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw hatte bei der Benennung das Bild einer Straßenkreuzung im Sinn, an der sich Machtwege kreuzen, sich überlagern, womit sie soziale Ungleichheit und ihre Vielschichtigkeit darstellen wollte. Im Englischen heißt die Straßenkreuzung „Intersection“, deshalb: Intersectionality. Im Deutschen ist das weitaus schwieriger.
„Kreuzität“ wäre ein jedenfalls gewöhnungsbedürftiges Wort – und, wie eine taz-Kollegin letztens bei einer Konferenz richtig sagte: Kreuzigung war halt schon vergeben. Deshalb also: Intersektionalität.
Schwarze Frauen kamen für Jobs nicht infrage
So weit zum Namen, nun zum Leben: Ein Fall, mit dem auch Crenshaw, die heute Juraprofessorin und Präsidentin des Center for Intersectional Justice in Berlin ist, seit 30 Jahren in ihren Reden gerne veranschaulicht, was mit Intersektionalität gemeint ist, das ist der Fall Emma DeGraffenreid.
DeGraffenreid hat 1976 in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri gemeinsam mit vier anderen Schwarzen Frauen ihren früheren Arbeitgeber General Motors wegen Diskriminierung verklagt. Die Frauen wurden 1974 betriebsbedingt entlassen. Die Auswahl fiel auf sie, weil sie zu dem Zeitpunkt die kürzeste Betriebszugehörigkeit aufwiesen. DeGraffenreid etwa wurde 1973 eingestellt. Doch sie hatte sich bereits zuvor, im Jahr 1968, beworben und wurde abgelehnt. Ähnlich ging es den anderen Frauen.
Sie beklagten, dass es bei General Motors lange Praxis gewesen sei, für gewisse Jobs nur Männer einzustellen, etwa in der Fabrik, und für andere Jobs nur Frauen, etwa im Sekretariat. Darüber hinaus machten die Klägerinnen aber die Beobachtung, dass für die „Männerjobs“ zwar auch Schwarze Männer eingestellt wurden, für die „Frauenjobs“ aber nur weiße Frauen. Schwarze Frauen kamen also lange für keine der Jobkategorien in Frage.
Bis 1970 habe es in der ganzen Niederlassung in St. Louis deshalb nur eine Afroamerikanerin gegeben, die war Hausmeisterin. Die Klägerinnen argumentierten, dass sie, wäre das nicht so lange die Praxis gewesen, schon viel früher beim Unternehmen hätten arbeiten können, wodurch sie wiederum bei den Stellenkürzungen nicht entlassen worden wären.
Crenshaw erforschte das Loch im System
Das Gericht lehnte die Klage ab. Nicht etwa weil es die Argumentation für gewagt hielt, sondern weil es schlicht nicht anerkennen wollte, dass Menschen wegen Hautfarbe und Geschlecht gleichzeitig diskriminiert werden konnten. So hieß es damals, die Frauen müssten sich entscheiden, ob sie gegen die Diskriminierung nach Hautfarbe oder Geschlecht vorgehen wollten – eine Kombination von beidem sei nicht möglich.
Da die Schwarzen Männer aber ein Beleg dafür gewesen wären, dass General Motors nicht nach Hautfarbe diskriminierte und die weiblichen Angestellten ein Beweis dafür, dass kein offensichtlicher Sexismus in der Einstellungspolitik herrschte, hatten die fünf Frauen keine Chance.
Schwarze Frauen machen also Diskriminierungserfahrungen, die weder Schwarze Männer noch weiße Frauen nachvollziehen können. Eine, die das sehen konnte, war Kimberlé Crenshaw. Sie machte es sich 1989 deshalb zur Aufgabe, herauszufinden, wie ein so großes Loch in einem juristischen System klaffen konnte, das sich mit dem Civil Rights Act von 1964 doch bereits ein Gesetz verordnet hatte, mit dem marginalisierte Menschen als Arbeitnehmer vor Diskriminierung nach „race, color, religion, sex and national origin“ geschützt werden sollten. Sie wollte nicht hinnehmen, dass Schwarze Frauen und Women of Color mit dieser Diskriminierung im Quadrat alleingelassen werden.
Diskriminierungsformen verschmelzen
Was Crenshaw tat, war denkbar klein, und was sie damit bewirken würde, war damals wohl kaum vorhersehbar. Sie schrieb einen Essay und gab dem Ding einen Namen, der heute – zumindest bei Betroffenen – weltweit bekannt ist. Ihr Ansatz war, wie sie es heute in ihren Reden zum Thema auch gerne beschreibt, dass der Mensch Frames, also Rahmen, braucht, in denen er denkt.
Denn was in keinen Rahmen passt, existiert nicht – so hatte es das Gericht ja vorgemacht. Sie schuf also den Rahmen, in dem eine mehrfache Diskriminierung gesehen werden kann, die so ineinander verwoben ist, dass sie eine neue Form ergibt. Es sind nicht einfach zwei (oder mehr) Diskriminierungsformen, die beide nebeneinander erlebt werden, sie verschmelzen und ergeben ein neues Ungetüm.
Es waren in erster Linie Schwarze Frauen, die den Begriff der Intersektionalität in die Welt getragen haben, auch, um den weißen Feminismus zu kritisieren. Aber es sind eine Menge Menschen davon betroffen. Zu Beginn ging man vor allem von drei sich kreuzenden und sich überlappenden Diskriminierungsformen aus: Rassismus, Sexismus, Klassismus.
Dazu kamen später noch: Ageism, Homophobie, Xenophobie, Ableismus und Transphobie. Es gibt aber auch Kritiker_innen, die eine längere Liste befürworten. Ebenso wird das Bild der Straßenkreuzung heute kritisiert, weil es nicht deutlich machte, dass die einzelnen Machtstränge nicht isoliert voneinander betrachtet werden können.
Immer noch kein Konsens
Jetzt ist das hier aber natürlich nicht die Diskriminierungsolympiade. Denn eigentlich geht es darum, zu verstehen, dass Intersektionalität kein Ding ist, kein Zustand, sondern eine Art und Weise, Dinge analysieren zu können.
Die Fähigkeit, zu sehen und nachzuvollziehen, dass eine Frau ohne Kopftuch andere Diskriminierungserfahrungen macht als eine Frau mit Kopftuch. Ein 22-jähriger Homosexueller andere Erfahrungen macht als ein 70-jähriger Homosexueller. Eine reiche Schwarze Cis-Frau anders behandelt wird als eine mittellose Schwarze Transfrau. Ein Mann mit Behinderung, der Arbeit und Familie hat, anders benachteiligt wird, als eine obdachlose Frau mit Behinderung. Und eine Person of Color aus einem prominenten Elternhaus in Deutschland andere Ressourcen und andere Chancen zur Verfügung hat als eine Person of Color mit einer alleinerziehenden Mutter, die Hartz IV bezieht.
Klingt bis dahin alles nachvollziehbar, oder? Dennoch ist es in einem linken Spektrum auch heute, 30 Jahre nach Crenshaws Essay, immer noch kein Konsens, dass man Diskriminierung von Menschen nur ganzheitlich bekämpfen kann, wenn man Privilegien erkennt und benennt – und zwar vor allem die eigenen.
Das Missverständnis, wenn es um Privilegien geht, liegt ja darin, dass ihre Benennung verwechselt wird mit dem Vorwurf, man habe alles geschenkt bekommen: Vor allem in einer deutschen Kultur, in der Fleiß und harte Arbeitsmoral als vermeintlich erstrebenswerte Charakterzüge gelten, erzeugt das prompt einen Widerstand, der oft jedes weitere Gespräch unmöglich macht.
Intersektionalität und Privilegien erkennen
Dabei gibt es zweierlei Privilegien, die einen, die man von Geburt an hat – und die anderen, die man sich im Laufe eines Lebens erarbeiten oder auch verlieren kann. Dies sowie den direkten Zusammenhang mit Intersektionalität zu erkennen, könnte viele gesellschaftliche Debatten voranbringen.
Wenn etwa Konsens wäre, dass – nur weil ein in vielerlei Hinsicht privilegierter Schwarzer Mann für acht Jahre Präsident der Vereinigten Staaten war – deswegen nicht automatisch alle anderen Schwarzen Menschen keinen Rassismus mehr erfahren; genauso wenig wie, nur weil eine in vielerlei Hinsicht privilegierte Frau aus dem Osten schon sehr lange deutsche Bundeskanzlerin ist, die Diskriminierung von Frauen aus dem Osten nun generell aufgehört hätte.
Oder aber auch, dass es nicht funktionieren wird, erst die Armut und dann den Rassismus zu bekämpfen, weil es da eine intersektionelle Schnittmenge von Menschen gibt, die es sich nicht leisten kann, dass ein großer Teil ihrer Lebensrealität einfach mal auf später verschoben wird.
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